30 Minuten Überfahrt trennen Hiddensee von der Hektik der Welt. Direkt neben der Insel Rügen liegt die schmale, langgestreckte Ostseeinsel. Sie ist nur mit dem Schiff von Stralsund oder Schaprode aus erreichbar. Die zauberhafte Insel – ohne Autos – ist für ihre einzigartige Natur bekannt – und für viel Kunst, Geschichte und Kultur.
Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael – jeder kennt den Schlager von Nina Hagen, mit dem 1974 ihre Karriere begann. Was ist dran an dem Mythos „Dat söte Leneken“? Rund 1000 Einwohner leben auf der 17 Kilometer langen und an manchen Stellen nur 130 Meter breiten Insel in den vier Orten Kloster, Grieben, Vitte und Neuendorf. Wer von einem Ort zum anderen will, darf das Fahrrad nehmen, laufen oder ein Pferdefuhrwerk mieten. Alles geht hier langsam. Zeit ist das Kapital der Insel.
Kurz nach dem Mauerfall lebte ich in Stuttgart und arbeitete dort am Theater – eines der ersten Reiseziele, Sehnsuchtsorte, die ich vom Süden Deutschlands im Osten, genauer gesagt, im Nordosten hatte, war die Insel Hiddensee. Im Frühjahr 1992 war es soweit. Ich fuhr mit meinen zwei kleinen Töchtern, sie waren sieben und acht Jahre, mit dem Nachtzug nach Stralsund. Dort trafen wir eine Freundin aus Berlin, die Patentante einer Tochter, eine Künstlerin und Schauspielerin, mit der wir eine Woche Hiddensee erkunden wollten.
Mit dem Schiff fährt man heute von Stralsund in zweieinhalb Stunden nach Hiddensee. Schon die Überfahrt entschleunigt. Und man muss eins sagen: In Zeiten der wiederholten Bahnstreiks empfiehlt sich die Anreise mit dem Bus nach Stralsund oder Schaprode. Der fährt, wenn er gebucht ist!
Sommer, Sonne und Geschichten
1992 wohnten wir in einem umgebauten Kuhstall bei einer Familie in Vitte, dem Ort, wo das Schiff anlegt. Die Wände der Ferienwohnung bestanden aus hellblauen Fliesen und es gab kein fließendes Wasser. Zum Waschen musste man Wasser vom Hahn nebenan holen und in eine Schüssel füllen. An eine Dusche war nicht zu denken. Es war herrlich! Wir machten kleine Wanderungen mit den Kindern und genossen das Meer und frische Seeluft. Und noch eine Fügung gab es: Ein Berliner Freund, der Autor und Regisseur Peter Ensikat, wohnte gerade nebenan in Kloster im Hauptmann-Haus mit seiner Familie, übrigens auch sehr einfach untergebracht – da er dort zwei Lesungen hatte. So war der Handel damals: für Lesungen konnten die Künstler dort ein paar Tage wohnen, arbeiten und Ferien machen. Eines Abends bin ich einfach rüber gelaufen, um Peter zu besuchen. Was Jahrzehnte lang in derselben Stadt nicht möglich war – hier auf der Insel Hiddensee fand Wiedervereinigung im Kleinen statt!
Hiddensee war vielleicht ein Ideal der DDR im Kleinen, galt als Nische für Andersdenkende und Aussteiger. Lutz Seilers Roman „Kruso“, der 2014 erschien, schildert diese Zeit vom Sommer 1989 bis in die kommenden Jahre. Das Buch wurde 2014 mit dem Deutschen Buchpreis und dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet. Die Geschichte spielt im Lokal „Zum Klausner“ im Dornbusch, das es heute noch gibt und dem man unbedingt einen Besuch abstatten sollte. Die Wanderung zum Leuchtturm – einem der schönsten Aussichtspunkte – über die ganze Insel ist natürlich inbegriffen und darf auf keinen Fall verpasst werden.
Das Hauptmann-Haus
Der Dichter Gerhart Hauptmann (1862 bis 1946), der 1912 den Nobelpreis erhalten hatte, kaufte im Sommer 1930 das Haus „Seedorn“ in Kloster und verbrachte bis 1943, da war er 81 Jahre, jeden Sommer auf der Insel. Das Sommerhaus ist eines der wenigen noch im Originalzustand erhaltenen Dichterhäuser in der Welt. Wenn man das Haus betritt, meint man, die Zeit sei stehen geblieben und Hauptmann kommt vielleicht gleich um die Ecke. Es besitzt eine sehr authentische Ausstrahlung, die in diesem Fall auch zugleich wahrhaftig ist. Arbeits- und Abendzimmer, die Schlafzimmer, Kreuzgang und Weinkeller vermitteln, wie der Künstler und seine Ehefrau Margarete auf der Insel lebten. Im Literaturpavillon nebenan finden in den Sommermonaten Lesungen von bekannten Autoren und andere Veranstaltungen statt.
Mein Verhältnis zu Hiddensee war so intensiv, dass ich Kollegen in Stuttgart nicht den Namen der Vermieterin erzählen wollte – damit die Insel so ruhig und still bleibt – ich meinte: unentdeckt. Das ist mir allerdings nicht gelungen. Und ich hab mich eindeutig überschätzt. Meine Berliner Freundin ist seither jedes Jahr auf die Insel gefahren.
Link
Hinweis
www.klausner-hiddensee.de
Lesetipp
Lutz Seiler: Kruso, Suhrkamp Verlag, 2015