Die Berliner Theaterlandschaft ist – man kann es so sagen – weltberühmt und bekannt. Sehr viele möchten hier arbeiten und noch mehr kommen in die Stadt, einfach nur um in die Theater zu gehen. Einige Erinnerungen dazu, wie es für mich angefangen hat.
Im November 1977 kam ich auf verschlungenen Wegen von Ost-Berlin nach Berlin-West. Im April 1978 begann ich mit dem Studium der Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Eigentlich – man muss es so sagen – hatte ich von nichts auch nur eine Ahnung. Ich wusste nicht, was Theaterwissenschaft ist, es klang einfach ganz gut, irgendwie interessant und auch seriös. Somit konnte ich die Studienwahl vor mir selbst und auch vor meinen Eltern rechtfertigen. Ich war zwanzig Jahre alt. Ich wusste nicht, wie in einem Theater gearbeitet wird. Woher auch? Ich kam aus einem ganz anderen Umfeld. Ich kannte Theater und seine Wirkung allerdings als begeisterte Zuschauerin der Theater im Osten der Stadt. Ich war viel und oft im Deutschen Theater, im Maxim-Gorki-Theater, in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, in der Komischen Oper und natürlich im Berliner Ensemble gewesen und hatte da sehr Erstaunliches gesehen und erfahren. Gespürt wie auf der Bühne laut Ausgesprochenes, was sich sonst niemand zu sagen wagte, plötzlich enorme Wirkung zeigte und den Kopf frei machte. Die Wirkung von Kunst, ganz unmittelbar. Ich wusste allerdings nicht, was im Westen, also in Berlin-West los ist, was da gespielt wird und wie die jungen Leute, die Angehörigen meiner Generation ticken. Ich war neu und fing einfach mal irgendwo an, wo sich mir eine Möglichkeit bot.
Von Ost-Berlin nach West-Berlin. Mit dem Theater über Grenzen
Ich wollte was lernen. Möglichst viel lernen, denn ich hatte gerade viel erfahren. Nämlich den Wechsel von Ost- nach West-Berlin. Einen Umzug mit der ganzen Familie via Familienzusammenführung. Von Berlin/DDR nach Berlin/BRD zu einer Zeit, als das noch nicht üblich war und ich mit meiner Erfahrung ziemlich allein dastand. Ich wollte also studieren und Neues und Vieles lernen. Ich dachte mir, Theater gibt es überall und im Übrigen seit über 2000 Jahren und da wird es Ansatzpunkte geben. Es war allerdings in West-Berlin zu der Zeit so, dass an der FU sehr viel gestreikt wurde. Um alles Mögliche, zum Beispiel um das Hochschulrahmengesetz. Und so gelangte ich anstatt in heiß ersehnte Vorlesungen über Theater in diverse Streikfrühstücke im Garten einer alten Villa in Berlin-Zehlendorf, wo die Theaterwissenschaft damals angesiedelt war. Ich wusste nix dazu zu sagen. Und war einfach fremd.
Kontraste. Theaterwissenschaft in Westberlin der 70er Jahre
Später, viel später, habe ich erfahren, dass es den Studierenden der Theaterwissenschaft damals nicht in erster Linie um Wissenserwerb ging, sondern um Selbsterfahrung und Selbstfindung. Tja, das stand aber nirgends dran. Ich wunderte mich nur. So etwas kannte ich nicht. Es gab keinen verbindlichen Stundenplan, sondern man musste sich alles selbst aussuchen, alle Seminare freiwillig zusammenstellen. Und bloß nicht zu viel. Ehrgeiz war verpönt, das Wort Benotung kam nicht vor. Benotet wurde im Nachhinein, für die Prüfungen. Denn benotete Prüfungen blieben niemand erspart. Aus einem verschulten Bildungssystem der DDR kommend, war es für mich an der FU das blanke Chaos.
Irgendwann ging es dann doch los. Nicht etwa systematisch bei den alten Griechen, sondern mit einem Seminar mit dem Titel Die Darstellung geschichtlicher Vorgänge auf dem politischen Theater der Gegenwart bei Professor Arno Paul. Das klang interessant. Ich machte mit. Es war nicht uninteressant, aber etwas ganz anderes, als ich mir unter dem Titel vorgestellt hatte. Es ging nämlich um aktuelles Theater in der Bundesrepublik, nicht um Heiner Müller, Volker Braun oder Thomas Brasch. Die kamen später zum Zuge. Theatertheorien des Sturm und Drang war das zweite Seminar, an dem ich teilnahm. Es ging also recht politisch orientiert los. Eigentlich wollte ich weg von den Ideologien, denn die kannte ich ja zur Genüge aus der DDR, aber es ging nicht und zudem wurde mir das erst später klar.
Auf Exkursion nach Europa. Paris, Hamburg, Genf, Rotterdam
In den nächsten Semestern nahm ich an so schönen Seminaren wie Entwicklung und gegenwärtige Spielpraxis des Théâtre du Soleil mit Exkursion und Aspekte des modernen Welttheaters. Untersuchungen am Beispiel des Festivals ‚Theater der Nationen‘ in Hamburg ebenfalls mit Exkursion teil. Wir reisten nach Paris und besuchten das Théâtre du Soleil in der Cartoucherie in Vincennes bei Proben und Vorstellungen und schauten uns die Stadt an. Ich hörte erstmals Französisch im Alltag und war verzaubert, aber verstand nichts. In Hamburg waren wir im April fast drei Wochen. Es war interessant und vielfältig, wir konnten viel sehen und Neues erfahren. Theater der Nationen heißt heute Theater der Welt und findet alle drei Jahre in einer anderen Stadt in Deutschland statt.
In Hamburg organisierte ich mir auch meine zweite Hospitanz am Theater. Nämlich bei King Lear von William Shakespeare in der Regie von Manfred Karge und Matthias Langhoff. Über Hamburg und Genf ging es für mich dann im August nach Rotterdam in Holland ins Ro-Theater. Hier war ich plötzlich für zwei Monate Regieassistentin bei einer großen Shakespeare-Produktion. Die Theaterproben waren mehrsprachig. Englisch, Niederländisch, Französisch und Deutsch. Nun war ich mittendrin. Zweiundzwanzig Jahre und im Theater angekommen.
Zurück in Westberlin. Und wie weiter?
Zurück in Berlin stellte sich die Frage: Wie weiter? So einfach wieder in das Studium, das mir strukturlos und einfach zu theoretisch erschien, war mir nicht möglich. Ich beschloss Schauspielerin zu werden und bewarb mich an verschiedenen Schauspielschulen. In Berlin, Hannover, Bochum und Salzburg. Schließlich landete ich beim Freien Theater. Dem Berliner Kinder- und Jugendtheater Rote Grütze. Doch das ist wirklich eine andere Geschichte.
In Westberlin, ja alles fand noch zu Zeiten der Berliner Mauer statt, besuchte ich zudem gern die Schaubühne, anfangs noch am Halleschen Ufer in Kreuzberg, seit 1981 am Lehniner Platz. Auch das Schiller-Theater, bis es 1993 geschlossen wurde und das Hebbel-Theater.
Das Berliner Theatertreffen besteht seit 1963 und feiert in diesem Jahr sein 60. Jubiläum
In Westberlin fand seit 1963 jedes Jahr im Mai das Berliner Theatertreffen statt. Es versammelte und versammelt die zehn bemerkenswerten Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum, die eine Jury im Laufe des Jahres ausgesucht hat. Auch in Zeiten meines Theaterwissenschaftstudiums bekamen wir mitunter Karten über die Universität. Denn der freie Verkauf wäre für Studenten zu teuer gewesen. Nachdem wir einige Vorstellungen gesehen hatten, kam der Wunsch nach mehr auf. Also dachten wir uns den Trick aus und gingen nach der Pause in den 2. Teil. Dort war damals keine Kartenkontrolle. Wir Studenten, etwas arrogant, waren der Meinung: Man erkennt die Art und Weise, wie die Inszenierung gemacht ist, den Inhalt wissen wir auch so. Auf diese Weise sahen wir einiges. Aber irgendwo war man verwirrt, denn so kann man natürlich keinen Eindruck der Inszenierung, dem ganzen Theaterstück bekommen.
Dennoch, das Berliner Theatertreffen und Theater der Welt haben mich nachhaltig beeindruckt. Die allermeisten Theaterfestivals sind schön. Meist finden sie im Frühjahr und Sommer, zum Ende der Spielzeit statt. Auch Kinder- und Jugendtheaterfestivals und Tanzfestivals sind spannend. Man gelangt in einen gewissen Sog und nach einem oder zwei Tagen geht man ohne Probleme in drei Vorstellungen pro Tag. Zwischendrin trifft man Freunde und Kollegen, die man oft jahrelang nicht gesehen hat. Manche Festivalspielorte liegen auch so weit auseinander, dass es Busse gibt, die als Shuttle hin und her fahren. Manche Zuschauer kommen seit Jahrzehnten und stehen immer wieder Stunden vorher nach Karten an.
Noch heute, über dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, ist es so, dass manche Berliner Theaterfreunde lieber in ihr im Osten oder im Westen gelegenes Theater gehen. Die andere Hälfte der Stadt betreten sie nur im Notfall. Egal ob im Osten oder Westen, Theater ist einfach am besten! Es spiegelt immer die Gesellschaft und versammelt Menschen aus verschiedenen Schichten zu einem demokratischen Forum, das es in dieser Zusammensetzung sonst nicht gibt. Auch wenn sich Inszenierungs-, Darstellungs- und Spielformen im Theater in den letzten 40 Jahren enorm geändert haben – der Satz aus Goethes Faust 1, Vorspiel auf dem Theater gilt immer noch: Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen. Und jedermann erwartet sich ein Fest.