Mit unserem Reisebus steuern wir Wittstock an der Dosse an, deren mittelalterliche Altstadt von der gotischen Stadtpfarrkirche Sankt Marien und Sankt Martin dominiert wird. Nachdem wir die äußere Architektur des Gotteshauses begutachtet haben, klettern wir auf dessen hohen Kirchturm, um auf die charmante Stadt und in das eiszeitlich geprägte Umland zu schauen
Es ist unbestreitbar, dass die imposante Sankt Marien- und Sankt Martin-Kirche mit ihrem dominanten, 68 Meter hohen Kirchturm nicht nur das bedeutendste Wahrzeichen der am nördlichen Rand der Kyritz-Ruppiner Heide gelegenen Kleinstadt Wittstock an der Dosse – einem Nebenfluss der Havel – ist, sondern dass sie auch den Charakter des eiszeitlich geprägten Umlands bis südlich der Mecklenburger Seenplatte mit bestimmt. Ursprünglich war das Wittstocker Gotteshaus allein dem Heiligen Martin, dem dritten Bischof von Tours an der Loire und Patron der geschäftstüchtigen Kaufleute, der fleißigen Tuchhändler, der Gastwirte und der Reisenden, geweiht. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde jedoch aufgrund der verstärkten Verbreitung des Marienkults das heutige evangelische Gotteshaus offiziell in Sankt Marien- und Sankt Martin-Kirche umbenannt. Sankt Martin blieb jedoch, neben der seit damals an erster Stelle genannten Heiligen Muttergottes, auch als ursprünglich primärer Schutzpatron der Pfarrkirche bis in unsere Tage erhalten.
Die Legende des Heiligen Martin, des dritten Bischofs von Tours an der Loire
Sankt Martin, dessen lateinischer Name ‚dem [römischen] Kriegsgott Mars geweiht’ bedeutet, ist einer der bekanntesten Heiligen der katholischen Kirche, der aufgrund seiner populären Legende weltberühmt geworden ist. An jene zeitlose Überlieferung des Heiligen erinnern uns noch immer die zahllosen Sankt-Martins-Umzüge, der Martinstag und die vielen Martinsgänse, die allerdings nicht mehr nur an Martini, am 11. November, vor dem großen Fasten im Advent, als opulenter Gänsebraten verspeist werden. Im Jahre 334 war Martin als junger Gardeoffizier ins spätantike Ambianum, ins heute nordfranzösische Amiens, gekommen. In der uns überlieferten Legende heißt es dazu, dass Martin, als er an einem kalten Winterabend hoch zu Ross auf Ambianum zu geritten kam, sein Pferd zunächst scheute und er einen frierenden Bettler entdeckte, der gänzlich in zerschlissene Lumpen gehüllt war. Daraufhin hatte der barmherzige Mann sein scharfes Schwert genommen, um seinen wärmenden, aus einem rechteckigen Stück Wollstoff bestehenden Soldatenmantel, das antike sagum, zu teilen und die eine Hälfte dem fröstelnden Bedürftigen zu geben. In der darauf folgenden Nacht war unserem jungen Decurio, dem Führer einer römischen Kavallerieabteilung, in einem bewegten Traum, dem in sein verschenktes Mantelstück gekleideten Jesus von Nazareth erschienen, der ihn, als listiger Bettler maskiert, zuvor geprüft hatte. Auf längere Dauer hin hatten sich Martins erwachendes ‚Christsein’ und die rigorose Offiziersstellung bei der kaiserlichen Reitergarde, den Equites singulares, nicht mehr miteinander vereinbaren lassen, so dass er seinen eisenharten Militärdienst im Jahre 356 endgültig quittierte.
Anschließend ließ Martin sich zu einem gottesfürchtigen Priester weihen. Später entwickelte er sich zu einem weit gereisten Missionar und schließlich wurde er zum dritten Bischof, in der nun im französischen Département Indre-et-Loire gelegenen Stadt Tours gewählt. Der Namenstag des Heiligen ist am 11. November, dem Tag seiner feierlichen Grablegung in der unterirdischen Krypta der Basilika Saint-Martin de Tours, die einst zu den größten Kirchenbauten des Abendlandes gehörte.1
Sankt Martin – beliebter Schutzpatron der Kirchen auf belebten Markt- und Handelsplätzen
Das Patrozinium, die ‚Schutzherrschaft’ oder der ‚Beistand’ (lat. patrocinium) des Heiligen Martin breitete sich rasch nach dessen Tod in der von der majestätischen Loire durchflossenen und der historisch als Touraine bezeichneten, im pulsierenden Herzen des heutigen Frankreichs gelegenen Region, aus. Schon zu Beginn des 6. Jahrhunderts gab es immer mehr dem Sankt Martin geweihte Kirchen. Allein im heutigen Frankreich sollen 237 Städte und Dörfer und etwa 3600 Kirchen (!) den Namen des Heiligen Martin tragen. Der aus dem legendären und ältesten Herrschergeschlecht der fränkischen Merowinger2 stammende und später getaufte Katholik Chlodwig I., Clovis († 511), dem Gründervater des Fränkischen Reichs, hatte Saint Martin de Tours nicht nur zum immerwährenden Schutzherrn der Merowinger Könige, sondern auch zu dem ihres Volkes erklärt.
Im Verlauf der stetigen Expansion des noch jungen, kraftvollen Fränkischen Reichs gelangte der Martinskult auch in die diesseits des Rheins gelegenen, östlichen Regionen Germaniens. Zunächst erreichte der Kult den Harz und den Thüringer Wald, später breitete er sich bis nach ganz Süddeutschland aus. In Folge der ansteigenden Christianisierung erfolgte die Verehrung des Heiligen Martin bald darauf im gesamten germanischen Territorium. Vor Ort wurden häufig die neu gebauten und an gut besuchten Markt- und Handelsplätzen gelegenen Kirchen – wie auch im Fall der Wittstocker Pfarrkirche – dem Heiligen aus Tours geweiht. Damit gehören sie zu den ältesten Gotteshäusern in ihren jeweiligen Regionen! Gleichermaßen wurden sogar komplette Städte und Burgen nach Sankt Martin benannt.
In unserer Zeit ist der Heilige Martin nicht nur der verehrte Patron von Frankreich, der 2. Patron von Ungarn, des katholisch geprägten Thüringer Eichsfelds, des Kantons Schwyz, des Burgenlands, der zweite Patron von Salzburg und der Stadt Düsseldorf, sondern auch der Schutzherr der Kavalleristen und Reiter, der Polizisten, der Bettler und der Armen sowie zahlloser anderer mehr.
Interessanterweise war Martin von Tours der erste Nichtmärtyrer, der in der katholischen Kirche als Heiliger verehrt wurde.3 Wir kennen sogar eine Menge merkenswerte Bauernregeln, die an den heiligen Mann aus der milden Touraine erinnern, von denen zwei an dieser Stelle dem geneigten Leser genannt werden sollen:
„Sankt Martin ist ein harter Mann – für den, der nicht bezahlen kann.“
“Ist die Martinsgans am Brustbein braun – wird man mehr Schnee als Kälte schaun. Ist sie aber weiß – kommt weniger Schnee und Eis.“
Die Architektur der Stadtpfarrkirche und ihre Bedeutung für die Bischöfe von Havelberg
Wir finden es sehr bedauerlich, dass es keine mittelalterliche Urkunde gibt, in der uns der Baubeginn des auffallend großen Kirchengebäudes mitgeteilt wird. In der Mediävistik wird aber bereits seit längerer Zeit vermutet, dass im Verlauf der Stadtgründungsphase Wittstocks gleichzeitig mit dem Bau der Pfarrkirche um das Jahr 1230 begonnen worden sein könnte. Sie liegt noch immer in der in ihrer unnachahmlichen Struktur unversehrt gebliebenen mittelalterlichen Altstadt.
Unter dem Patrozinium des Heiligen Martin hatte sich in Wittstock aufgrund des schnell prosperierenden Handels und Handwerks bereits sehr früh eine wirtschaftliche Blütezeit entwickelt, die ein wohlhabendes Bürgertum hervorbrachte. Zu deren Schutz wurde, nach der Aussage einer alten Chronik, das mittlerweile heute über 750 Jahre zählende Wittstock von einer noch immer fast komplett erhaltenen Stadtmauer umrahmt, die schon 1244 angelegt worden war. Die knapp 2,5 Kilometer lange und aus roten Backsteinen errichtete Barriere weist eine beachtliche Höhe von bis zu sieben Metern auf, wodurch sie als einzigartig in Deutschland bezeichnet werden kann. Wer ein wenig freie Zeit hat und gut zu Fuß ist, dem dürfte es eine große Freude machen, sie zu umrunden.
Es gilt als gesichert, dass am 28. August 1275 die damals noch allein dem Heiligen Martin geweihte Wittstocker Pfarrkirche unter der Ägide des tatkräftigen Bischofs Heinrich II. in das benachbarte Havelberger Domkapitel – der Domherren, Pröpste und Dekane – aufgenommen worden war. Nachdem die Havelberger Oberhirten die aufblühende Stadt Wittstock mit deren Alter Bischofsburg zu ihrer bevorzugten Residenz und zum maßgeblichen Mittelpunkt ihrer einflussreichen Diözese auserkoren hatten, dürfte die nun großzügig ausgestattete Stadtpfarrkirche Sankt Martin auch ihre größte spirituelle Autorität in der Epoche vom späten 13. bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts besessen haben.
Es wird vermutet, dass die Pfarrkirche in ihrer ursprünglichen Konzeption offenbar von Anfang an als eine dreischiffige, kreuzrippengewölbte Backsteinhallenkirche geplant worden war. Für diese These spricht, dass bereits das frühgotische Langhaus, das Kirchenschiff, durch eine gewaltige Westfassade, das sogenannte Westwerk, abgeschlossen wird. Nach einem Brand wurde das Oberteil des Westbaus unter Meister Christoph von Lüneburg 1512-19 umgestaltet. Ein mächtiges Dach mit seinem Giebel vollendet die großartige Krönung des Kirchenbaus. Die äußere Gesamtlänge des fulminanten Gotteshauses beträgt stattliche 64 Meter und die Breite des Kirchenschiffes misst 23 Meter.
Darüber hinaus wurden an die Nord- und an die Südfassade der Stadtpfarrkirche im späten 15. Jahrhundert zweigeschossige Kapellenanbauten, deren Außenwände teilweise mit geometrischer Rautenmusterung geschmückt sind, vor die ehemaligen Ein- und Ausgangsportale hinzugefügt. Im Innenraum jener Kapellen können wir noch gut, die vom Vorgängerbau umgesetzten Portale erkennen.
Ein hoher Kirchenturm mit barocker Haube
Beeindruckend ist der älteste Bauteil der gotischen Backsteinhallenkirche, ihr mächtiger frühgotischer Turm, der in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert. Es dürfte jedermann erstaunen, dass deren massive Mauerstärke an allen ihren vier Seiten beachtliche vier Meter betragen.
Zudem sind das eindrucksvolle Turmportal, ebenso wie die später erbauten Nord- und Südportale der Kirche, mehrfach abgestuft sowie in gotischen Spitzbogenformen aus verschiedenfarbigen und glasierten Steinen gestaltet worden. Der breite Turmeingang liegt nicht nur zu ebener Erde, sondern er stimmt auch mit der Höhe des Fußbodens des Kirchenschiffs überein. Dadurch könnten sich einige Rückschlüsse auf das ursprüngliche mittelalterliche Bodenniveau ziehen lassen. Die beiden Treppenzugänge im Inneren des imposanten Kirchturms führen zum einen zur barocken Orgel hinauf, zum anderen zur Nord- und Südempore.
Außerdem ist der mittelalterliche Turm sowohl vom Inneren des nördlichen Kirchenschiffs her als auch und von außen an der Südseite des Westwerks, der Westfassade, über jeweils eine enge Wendeltreppe für schwindelfreie Besucher aus erreichbar. Unterhalb des Glockenstuhls endet die steinerne Spindeltreppe. Von dort aus führt uns, über 195 Stufen, eine schlichte Holztreppe weiter bis ganz nach oben hinauf. Vom Besucherplateau des Turmes bietet sich dem schauenden Ausflügler ein herrlicher, aber windiger, Ausblick auf die charmante Kleinstadt Wittstock an der Dosse bis in die eiszeitlich geprägte Umgebung hinein. Über ihren Köpfen befindet sich nur noch das heute weitflächig mit blaugrüner Patina überzogene Turmdach, dessen barocke und glockenförmig geschweifte Haube im Jahre 1704 konstruiert worden war.
Nachdem wir vom 68 Meter hohen Kirchturm wieder hinunter geklettert sind, betreten wir das Langhaus, das Kirchenschiff, der Pfarrkirche Sankt Marien und Sankt Martin, um uns das kostbare Inventar des Gotteshauses und die interessante Dauerausstellung ‚Kirche und Macht – Die Bischofszeit in Wittstock’ anzuschauen. Überdies können Musikliebhaber in den Sommermonaten regelmäßig, meistens mittwochs, klassische Konzerte in der Kirche anhören.
Unser Reisebus muss noch ein bisschen auf uns warten, bevor wir zur ehemaligen Alten Bischofsresidenz, zum mittelalterlichen Gröper Stadttor, zur gotischen Heilig-Geist-Kirche und zum Wittstocker Rathaus weiter fahren werden. Der Buskompass-Autor wird uns darüber en détail berichten.
Hinweis
Eintritt für den Kirchturm der Stadtpfarrkirche
Erwachsene 2 €
Kinder bis 14 Jahre 1 €
Gruppen ab 10 Personen = 1 € pro Person
Link
1+3Vgl. www.heiligenlexikon.de
Literatur
2Vgl. Bleiber, Waltraut: Das Frankenreich der Merowinger, Berlin 1988
Vgl. Büttner, Horst; Ilse Schröder & Christa Stepansky: Kunstdenkmäler, Bildband IV, hg. vom Institut für Denkmalpflege, Berlin 1987. S. 23, Nr. 39; S. 51, Nr. 95; S. 57, Nr. 107. Texte zur Pfarrkirche Sankt Marien und Sankt Martin. Bildtafeln 39, 95 & 107
Vgl. Müller, Hans: Dome ∙ Kirchen ∙ Klöster – Kunstwerke aus zehn Jahrhunderten, ein Tourist-Führer. Berlin/Leipzig 21986. S. 258f. Wittstock. Pfarrkirche Sankt Marien