Wo gibt es unbekannte Kieze in Berlin?
Welchen Teil der Stadt kennen oft alteingesessene Berliner nicht?
Was gibt es abseits der Hauptstraßen zu entdecken?
Im Südwesten der Stadt in Wilmersdorf zwischen Steglitz, Friedenau und Grunewald gibt es tatsächlich ein Wohnquartier zu finden, wo Schauspieler, Sänger, Tänzer, Journalisten und Schriftsteller schöne, günstige Wohnungen bekommen können. Auch mir als ortskundige Berlinerin, die seit Jahrzehnten in der Stadt wohnt, war dieser Kiez bislang unbekannt.
Besondere Umstände
Beim diesjährigen Theatertreffen im Mai traf ich eine Kollegin wieder, die ich Jahrzehnte nicht gesehen hatte. Ich sprach sie an, sagte Hallo. Sie antwortete sofort herzlich und persönlich. Zwischen uns gab es sofort eine Art geheimer Übereinstimmung. Unter Theaterleuten ist es tatsächlich so und ich denke, das ist besonders – auch wenn man sich Jahrzehnte nicht gesehen hat, bleibt man sich fest in Erinnerung. Positiv und negativ. Durch die intensive Zusammenarbeit beim Spielen auf der Bühne und im Probenraum, bei stundenlangen, kräftezehrenden Proben und bei Vorstellungen und großer Freude beim Applaus, wenn alles gelungen ist – für Schauspieler gibt es im normalen Sinne keine Begrenzung der Arbeitszeit. Man nimmt die Probenarbeit und alle Begegnungen mit nach Hause. Oft sitzt man später noch zusammen, wartet gemeinsam in den Pausen, kennt die jeweiligen Familien und deren Umstände. Durch alle diese lebendigen Faktoren sind Begegnungen fest eingebrannt. Schauspieler arbeiten mit ihrem Körper, nicht mit Dingen oder Geld. Daher sind Wiedersehen – auch nach Jahrzehnten – oft mehr als Guten Tag und wie geht’s? Danke, gut. Sondern man kann mitunter, nicht immer, aber oft, wenn man denn möchte, dort wieder anfangen, wo man vor dreißig oder mehr Jahren aufgehört hat. So erging es mir auch mit meiner Kollegin Judith. Wir tauschten unsere Adressen und Telefonnummern aus. Und auf meine Frage Wo wohnst Du denn?, kam die Antwort In der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz. Ich sagte Nie gehört. Wir verabredeten uns zu einem gemeinsamen Spaziergang demnächst.
Viel Geschichte, viel Hoffnung seit den zwanziger Jahren
Die Künstlerkolonie wurde 1927 bis 1929 durch die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger (GBDA), das ist die Gewerkschaft der Bühnenangehörigen, die es heute noch gibt und den Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Rahmen des städtebaulichen Konzepts der Gartenstadt erbaut. Die GBDA hatte fünfundsiebzig Prozent der Fläche erworben, der Schutzverband Deutscher Schriftsteller fünfundzwanzig Prozent. Den Bühnenangehörigen sollte eine hohe Wohnqualität zu günstigen Mieten angeboten werden. Dies war eine bewusste Alternative zur Blockbebauung und dem Elend in den Mietskasernen. Es sollte eine Gartenterrassenstadt zu erschwinglichen Preisen mit hoher Wohnqualität gebaut werden. Dies ist wirklich gelungen. Die Architekten waren Ernst und Günther Paulus. Auch das gemeinschaftliche Wohnen sollte gefördert werden. Die Gestaltung der Innenhöfe sollte der Begegnung der Bewohner dienen. Das Viertel wurde schnell zur Heimstatt bedeutender Persönlichkeiten des Kulturlebens der Weimarer Republik. Viele der damals prominenten Künstler und Intellektuellen standen politisch links bis radikaldemokratisch, viele versuchten verzweifelt, eine Einigung der zersplitterten, verfeindeten Linken in Deutschland zu erreichen. Die rote Fahne der Kommunisten wehte neben der schwarz-rot-goldenen der Sozialdemokraten aus den Fenstern. Dies war zu der Zeit sehr ungewöhnlich. Mancher kam von weither, aus Wedding, aus dem Osten Berlins, aus ganz Deutschland, um dieses Wunder zu bestaunen. Hier war eine Insel der Demokratie im brauner werdenden Berlin.
Viele Bewohner waren zudem jüdischer Abstammung. Als jüdische Linksintellektuelle zählten sie zu den ersten Opfern der Nazis. Die meisten der bekannten Intellektuellen standen für aufgeklärtes Denken, das in der Schlussphase der Weimarer Republik nur bei den Linken eine politische Heimat finden konnte. In der Künstlerkolonie ist dies gelungen.
Ich nenne hier nur den Philosophen Ernst Bloch, den Lyriker und Hörspielautor sowie späteren Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form Peter Huchel, den Schriftsteller Johannes R. Becher, den Sänger und Schauspieler Ernst Busch, die Schauspielerin Steffie Spira und die bekannte Berliner Theaterfotografin Eva Kemlein.
Der Schauspieler und Theaterintendant Ludwig Barnay (1842-1924) hatte 1871 die GBDA gegründet. Nach ihm wurde 1963 der ehemalige Laubenheimer Platz benannt.
Die Zäsur der Nazi-Zeit und trotz alledem
Nach 1932 sollte der vierte Block bis zum Breitenbachplatz gebaut werden, dies wurde jedoch von den Nazis verhindert. Am 15. März 1933 wurde die Siedlung von SA-Truppen gestürmt. Bücher wurden auf dem Laubenheimer Platz verbrannt, kritische Schauspieler, Schriftsteller und jüdische Bewohner wurden verhaftet. Etwa zwei Drittel der Bewohner wurden ins Exil getrieben. Der Bauplan von 1929 hatte ursprünglich einen großen Lesesaal als Kommunikationszentrum vorgesehen. Dieser Bau wurde von den Nazis verhindert. Eine solche Siedlung braucht allerdings einen Treffpunkt. Daher wurden 1952 vier neue Wohnblocks im Stil der Zeit sowie eine Ladenzeile und ein Klubraum für Lesungen, Ausstellungen und Treffen neu gebaut. Die gesamte Künstlerkolonie steht seit 1990 unter Denkmalschutz. Es sind heute 696 Wohnungen für etwa 1400 Bewohner. Derzeit gehört die gesamte Anlage Vonovia. Wer allerdings einziehen kann, entscheidet die GBDA. Man sollte eben Schauspieler, Sänger, Tänzer oder sonstiger Bühnenangehöriger sein.
Mir erscheint diese Künstlerkolonie trotz aller Brüche und Schmerzen als ein Stück gelebter Utopie. Hier konnte man miteinander leben. Ist es doch so, dass Künstler auf dem Wohnungsmarkt immer schon und derzeit besonders wenige Chancen haben, da die Einkommen meist niedrig sind und ihnen bei Vermietern der Ruf des Unsteten, des Fahrendes Volks vorauseilt. So ist hier am Breitenbachplatz nahe des Grunewalds und dennoch mitten in Berlin ein besonderes Fleckchen Erde erhalten und bestehen geblieben, wo die Künstler einfach wohnen, zu Hause sein können.
Mit meiner Bekannten Judith schauten wir uns am Pfingstsamstag alles genau an. Viele Lebensgeschichten bekannter Namen werden lebendig, da sie auf den Plaketten, den Berliner Gedenktafeln aus KPM-Porzellan, die an den Häusern angebracht sind, genannt werden. Ich konnte die Kraft des besonderen Kiezes spüren und fühlte mich an diesem außerordentlichen Erinnerungsort sofort zu Hause.
Nach dem Spaziergang liefen wir zum Rüdesheimer Platz. Dort ist in jedem Sommer ein sehr populäres Weinfest. Der Weinbrunnen ist in diesem Jahr vom 21. Mai bis zum 17. September jeweils von Montag bis Samstag von 15 bis 22 Uhr geöffnet.
Winzer aus dem Landkreis Rheingau-Taunus schenken seit mehr als fünfzig Jahren auf dem Plateau über dem Siegfried-Brunnen ihre Weine und Sekte aus. Essen können sich die Besucher selbst mitbringen.
Auch diese Berliner Gegend ist natürlich mit dem Bus gut zu erreichen.