Nachdem wir Königin Elisabeth Christines Rokokoschloss Schönhausen besuchten und in dessen Parkcafé vorbei schauten, steigen wir wieder in unseren Reisebus ein, um zum Rathaus zu fahren. Selbstbewusste Pankower Bürger ließen es zwischen 1901 und 1903 erbauen. Wenngleich ihre Gemeinde noch nicht zu Berlin gehörte, reisten viele Berliner Ausflügler in den Ort an der Panke.
“Ziehe nach Pankow – gesündester Vorort von Berlin.” Mit diesen überzeugten Worten warb gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein hauptstädtisches Plakat. Nicht nur gut betuchte Berliner Ärzte, Bankiers und Fabrikanten, sondern auch vermögende Handwerksmeister und rüstige Pensionäre hatten größere und kleinere Grundstücke sowie mitunter auch einfache Parzellen im nordöstlichen Vorort unweit der prosperierenden preußischen Metropole erworben. Außerdem war das auf der Hochfläche des Barnim gelegene Pankow mit dem gemütlichen Kremser, einem einfachen Planwagen, und seit 1881 auch mit der bequemeren Pferdebahn ein gut zu erreichendes und beliebtes Ausflugsziel geworden. Ein in der damaligen Zeit sehr populärer Gassenhauer: „Komm, Karlineken, komm, wir woll`n nach Pankow gehn…”1, lässt uns die vorherrschende Atmosphäre jener Tage musikalisch nachvollziehen.
Seitdem es die beiden neu errichteten Haltestellen an der Stettiner Bahn und an der Nordbahn gab, strömten in den warmen Sommermonaten immer mehr hungrige und durstige Ausflugsgäste, darunter auch viele Familien mit ihren zahlreichen Kindern, nach Pankow, um die diversen Gartenlokale am Anger, den alten Dorfkrug, das Lindersche Restaurant oder Ringels Bellevue zu bevölkern. Es verwundert uns daher nicht, dass sich zeitweise mehr Berliner Tagestouristen in Pankow aufhielten, als die kleine Gemeinde eigene Einwohner besaß. In nur zwanzig Jahren, von 1880 bis 1900, hatte sich deren Zahl verdreifacht! Logischerweise hat sich Pankow, nach Charlottenburg, zur steuerkräftigsten Region im nahen Umland, im sogenannten ‚Speckgürtel’, von Berlin entwickelt. Dieser anhaltende Boom brachte es mit sich, dass schon bald darauf über 1800 Gaslaternen aufgestellt wurden und nur wenige Jahre später eine eigene Wasserleitung gelegt werden konnte, auf die die Bürger völlig zu Recht stolz waren. Folglich fiel es dem damaligen Pankower Bürgermeister, Richard Gottschalk, überhaupt nicht schwer, seine üblicherweise skeptischen Gemeindevertreter nun von der notwendigen Errichtung eines repräsentativen Rathauses zu überzeugen. Im Verlauf eines feierlichen Festaktes wurde am 12. Juli 1901 mit drei traditionellen Hammerschlägen die Grundsteinlegung für dessen Bau in der Breiten Straße 24a–26 vollzogen.
Beeindruckende Rathausarchitektur
Das vom Mindener Architekten Wilhelm Johow konzipierte Rathaus ist ein dreigeschossiger, aus roten Klinker- und roten Sandsteinen über einem massiven Sockel aus schlesischem Granit erbauter Klinkerbau.
Diese neue Architekturform setzt sich aus einem typischen Mischstil von verschiedenen historischen Stilelementen zusammen, die dem sogenannten Eklektizismus vom Anfang des 20. Jahrhunderts zugerechnet wird. Die lebhaft gegliederte Rathausfassade ist in ihrer Mitte von einem vorgezogenen Risaliten gekennzeichnet. Der Risalit wiederum wird durch den von wohl geformten Säulen flankierten, dreibogigen Haupteingang charakterisiert, zu dem eine steile Freitreppe hinaufführt.
Außerdem wird das mit hohen Glasfenstern versehene Hauptportal von zwei mächtigen Türmen begrenzt, an denen vier allegorische Figuren angebracht wurden, die verschiedene Bürgertugenden darstellen. Sie werden in der Reihenfolge von Ost nach West folgendermaßen interpretiert:
Gerechtigkeit,
Bürgerfleiß,
Bürgerehre,
Mildtätigkeit.
Nachdem die ratsuchenden Bürger das Portal des Rathauses passiert haben, gelangen sie in ein geräumiges, vornehm gehaltenes Vestibül.
Sehenswert ist die dahinter liegende mit Stuckornamenten gestaltete und mit hübschen Lampen in Jugendstilformen geschmückte Eingangshalle, von der aus eine signifikante doppelläufige Treppe unter anderem in den mit einer dunklen Holztäfelung versehenen Großen Ratssaal führt.
Der sich auf einem quadratischen Grundriss erhebende 50 Meter hohe Eckturm des Rathauses hat an seinem ersten Obergeschoss robuste Balkons, die zur ursprünglichen Wohnung des Bürgermeisters gehörten. Eine darüber montierte Turmuhr zeigt nach allen vier Himmelsrichtungen die jeweilige Zeit an. Den krönenden Abschluss des massiven Turms bildet der zylindrische Turmhelm mit seiner offenen Laterne, mit der wir einen turmartigen Aufsatz bezeichnen. Allerdings musste die Spitze auf der Laterne bereits wenige Tage nach der zeremoniellen Einweihung des Rathauses gekürzt werden, weil sie einem schweren Sturm und Unwettern nicht standgehalten hätte.
Ursprünglich war das gesamte Rathausdach mit dicken Kupferplatten gedeckt, die aber im Verlauf des Ersten Weltkriegs zur dringend benötigten Gewinnung von Material für die Rüstungsindustrie wieder entfernt wurden. Summa summarum betrugen die einstigen Baukosten für das neue charakteristische Pankower Gemeindehaus mehr als eine halbe Million Reichsmark, das die damaligen Sozialdemokraten als viel ‚kostspielig’ und als zu ‚prunkvoll’ bezeichneten.
Feierliche Einweihung des Rathauses 1903
Bereits ein halbes Jahr vor der offiziellen Einweihung im Jahre 1903 hatte das imposante, neu errichtete Rathausgebäude zahllose Schaulustige jeglicher Couleur angelockt. Als eine viel beachtete Sensation entpuppte sich der ausgedehnte Rathauskeller, dessen ‚feine, großstädtische Räume’ bereits 1902 zum ersten Mal aufgrund ihrer elektrischen Beleuchtung in vollem Glanz erstrahlt waren.
Ebenso wurde die erste feierliche Eheschließung im neuen Standesamt der Pankower Stadtverwaltung allseits begeistert zur Kenntnis genommen. Auf der vis-à-vis gelegenen Straßenseite sah es hingegen durch die noch herum liegenden Schuttberge, die zahlreichen Wasser- und Gasröhren sowie die noch zu verlegenden Telegrafenleitungen ein bisschen wüst aus.
Am 25. Oktober 1902 konnte der stolze Bürgermeister Richard Gottschalk in seine frisch renovierte Amtswohnung in der ersten Rathausetage einziehen. Von seinem hohen Balkon aus war er in der Lage einen langen Blick auf den belebten Pankower Anger mit dessen mittelalterlicher Pfarrkirche ‚Zu den vier Evangelisten’ und auf die unter ihm vorbeifahrenden elektrischen Straßenbahnen zu werfen. Diese Straßenbahnlinie führte von der Pankower Damerowstraße bis zur Badstraße am Gesundbrunnen, der im Berliner Stadtbezirk Wedding liegt.
Am Mittwoch, dem 22. April 1903, lasen die Pankower Bürger in ihren diversen Gazetten, dass ‚der vergangene Sonnabend für unsere aufblühende Gemeinde ein Fest- und Freudentag [gewesen] war’. Schultheiß Gottschalk hatte circa 100 Ehrengäste begrüßen können, die sich in dem mit bunten Frühlingsblumen dekorierten Großen Ratsaal versammelten, um den von feierlicher Musik begleiteten Festakt zur Einweihung des neuen Rathauses zu begehen. Nicht nur der preußische Regierungspräsident Friedrich von Moltke und der Landrat des Kreises Niederbarnim, Sigismund von Treskow, waren zur offiziellen Zeremonie erschienen, sondern auch der Berliner Oberbürgermeister und der Polizeipräsident von Berlin ließen es sich nicht nehmen, an dem sich anschließenden freudigen Fest teilzunehmen. Ebenso reihten sich die drei im schwarzen Frack gekleideten Amtsvorsteher von Französisch-Buchholz, von Niederschönhausen und von Reinickendorf in die illustre Gratulantenschar ein. Nach vielen Toasten und überschwänglichen Dankesworten waren die festlich gestimmten Honoratioren und die ausgewählten Pankower Bürger noch einige Stunden in ungezwungener Heiterkeit zusammen geblieben. Um die ausgelassene Feier abzurunden, wurde vom Ratskellerwirt ein opulentes Festessen serviert, dessen einzelne Menüs die damals stattliche Summe von 18,50 Reichsmark gekostet haben sollen. Davon hätte zu Zeiten des Kaisers Wilhelm II. eine vierköpfige Familie etwa eine ganze Woche lang leben können. Ebenfalls ist es aus heutiger Sicht unverständlich, dass an jenem feucht-fröhlichen Gelage keine Frauen teilnehmen durften. Die desavouierten Damen mussten von der einsamen Empore aus zusehen, wie es sich ihre egoistischen Gatten unten im feudalen Ratsaal gut schmecken ließen. Nichtsdestotrotz hat der bekannte Pankower Maler Heinrich Werrmann diese üppige Schlemmerei einige Monate später für die staunende Nachwelt dokumentiert, in dem er sie mit seinem unnachahmlichen Zeichenstift im sozialkritischen Zille-Stil karikierte und damit öffentlich demaskierte.
Literatur
1Zit. Berliner Gassenhauer – „Komm, Karlinken, komm, wir woll`n nach Pankow gehn…”
Text: Seelig & Latz, Orginaltext: Emil Ascher & Adolf Spahn
Musik: Carl Wappaus nach dem „Hamburger Juxmarsch“ von Emil Ascher
Büttner, Horst; u.a.: Die Bau- und Kunstdenkmale, Berlin II, hg. vom Institut für Denkmalpflege. Berlin 1987, S. 23f. Rathaus Pankow mit mehreren schwarz-weiß Abbildungen
Steinhausen, Arwed; Dieter Geisthardt und Hans Klockmann: Rathaus Pankow 1903-1993, hg. vom Freundeskreis der Chronik Pankow e.V., Berlin-Pankow 1993