Nachdem wir uns das Pankower Rathaus angeschaut haben, wollen wir noch ein weiteres Stadtverwaltungsgebäude aus dem ausklingenden 19. Jahrhundert aufsuchen, weil uns dessen neogotische Backsteinarchitektur fasziniert. Deshalb steigen wir in unseren Reisebus ein, um von Pankow in den benachbarten Berliner Stadtbezirk Lichtenberg zu fahren.
Im Mittelalter hatten sich die ersten Amtstuben, die späteren Rathäuser, in Folge der Verleihung des Stadtrechts an die vormaligen Dörfer entwickelt. Das gewachsene Selbstvertrauen der Bürger spiegelte sich in der oftmals opulenten architektonischen Dekoration ihrer öffentlichen Gebäude wider. Nicht nur in Lichtenberg verkörpert die Backsteingotik des Rathauses bürgerliches Selbstbewusstsein und den Repräsentationswillen der früheren Zeit. In den damaligen Amtstuben tagte der meistens aus zwölf Räten und Richtern aus einflussreichen Familien oder Patriziern zusammengesetzte Magistrat oder Stadtrat. In der Regel wurden die Rathäuser unweit des Angers oder direkt darauf erbaut und peu à peu erweitert.
Baubeschluss für die Errichtung des Rathauses
Das kleine Dorf Lichtenberg lag damals noch vor den östlich gelegenen Stadttoren Berlins. In Folge des permanenten Bevölkerungswachstums des Ortes fühlte sich die Gemeindeverwaltung am Ende des 19. Jahrhunderts dazu verpflichtet, sich ein eigenes und repräsentatives Rathaus zu erbauen. Obwohl für dieses ambitionierte Vorhaben im Jahre 1892 eine Kommission gebildet worden war, blieb der dafür zuständige Gemeindevorstand in sich gespalten. Vor allem der bis 1896 amtierende Gemeindevorsteher Hermann Leo Roeder war gegen den Bau eines Rathauses eingestellt. Als sein energischer Nachfolger Oskar Ziethen schließlich die Amtsgeschäfte von seinem konkurrierenden Vorgänger übernommen hatte, setzte sich der neue Bürgermeister sofort für den Rathausbau ein. Unter Ziethens tatkräftiger Ägide konnte bereits ein halbes Jahr später, am 1. Oktober 1896, der einstimmige Beschluss zum Bau des Rathauses getroffen werden. Mit Recht können wir daher behaupten, dass das Lichtenberger Rathaus als ein „Denkmal seiner Amtszeit“ betrachtet werden kann. Sofort nach der Grundsteinlegung zur Errichtung des Rathauses bemühte sich parallel dazu die Lichtenberger Ortsgemeinde verstärkt darum, dass sie endlich die Stadtrechte verliehen bekäme. Bei den dafür zuständigen Behörden wurde argumentiert, dass ein angemessenes Verwaltungsgebäude bereits vorhanden sei.
Die Ausführenden des Rathausbaues
Mit dem Bau des Rathauses beauftragte die Verwaltung den extra eingestellten Gemeindebaumeister Franz Emil Knipping mit der Ausführung. Leider bleibt uns der Architekt des Gebäudes unbekannt, weil in Folge des Zweiten Weltkriegs viele darüber existierende Aufzeichnungen, Baupläne und Skizzen durch verheerende Brände zerstört worden sind.
Nachdem der Standort in der einstigen Lichtenberger Dorfstraße, der heutigen Möllendorffstraße, fixiert und anschließend Bauland erworben worden war, wurden die architektonischen Vorstellungen für das neue Gebäude entwickelt und die dabei getroffenen Planungen an den versierten Maurermeister Oscar Peucker in Auftrag gegeben. Nachdem Peucker wiederum seine konzeptionellen Vorarbeiten abgeschlossen hatte, begann Gemeindebaumeister Knipping mit deren praktischer Ausführung.
Architektur des Rathauses
Der unbekannte Architekt des heute unter Denkmalschutz stehenden Rathauses hat ein spitzwinkliges Gebäude in märkischer Backsteinbauweise mit einem abgeschrägten Eingangsbereich in deren Mitte konzipiert. Seine beiden Seitenflügel sind rückwärtig durch einen viertelkreisförmigen Trakt verbunden, wodurch ein großer ruhiger Innenhof gebildet wird. Darüber hinaus ist das dreigeschossige Gebäude nicht nur mit einem Walmdach bedeckt, sondern es wurde auch an seinem viergeschossigen Eingangsbereich mit einem dekorativen Staffelgiebel versehen. Auf dem Ziergiebel des Dachs thront ein viereckiges Türmchen, das mit einer verkupferten Laterne und einem darüber befindlichen, weithin sichtbaren Spitzhelm bekrönt ist. Insgesamt fällt dem aufmerksamen Betrachter sofort ins Auge, dass das Rathaus mit akzentuiert gesetzten Schmuckornamenten – wie Balkone, Gesimse, Risalite und Rundbogenfenster – versehen wurde. Zur farblichen Gestaltung verwendete der handwerklich geschickte Baumeister unter anderem auch rote Backsteine, die im farblichen Kontrast zu den grün glasierten Formsteinen stehen.
Zur heutigen Möllendorffstraße hin kann der sorgfältige Rathausbetrachter mehrere aus bunten Glasmosaiken gestaltete Wappenfelder mit Abbildungen des roten brandenburgischen und des schwarzen preußischen Adlers sowie des Lichtenberger Stadtwappens eruieren. Zu diesen wohlbekannten Hoheitszeichen gesellt sich noch das farbige Ziffernblatt der Rathausuhr. Nach nur zweijähriger Bauzeit war am 11. November 1898 das Rathausgebäude fertiggestellt und in einem festlichen Akt mit feierlicher Musik und zeremoniellen Reden der Lichtenberger Honoratioren eingeweiht worden. Die damaligen Gesamtkosten beliefen sich auf die stattliche Summe von 396.667,98 Goldmark.
Eingangsportal und Vestibül
Das vom routinierten Kunstschmied Erich Retzdorf 1937 angefertigte schmiedeneiserne Gitter verziert das Eingangsportal. Dahinter führt eine zehnstufige Treppe aus Granit in das mit einem Kreuzgratgewölbe versehene Vestibül des Gemeindegebäudes.
In den links und rechts neben der Haupttreppe befindlichen Bogenfeldern stellen die in Back- und Glasursteinen gefassten und gemalten Medaillons einerseits symbolische Abbildungen von Handel, Gewerbe, Landwirtschaft und Verkehr dar, andererseits verkörpern sie die mythologischen Allegorien der Einigkeit und der Gerechtigkeit. Deutlich stand die im Vestibül gezeigte altdeutsche Symbolik für Stärke und Dauerhaftigkeit. Last but not least endet ein im Foyer befindlicher hölzerner Treppenhandlauf in einem großen geschnitzten Löwenkopf.
Ausstattung des Lichtenberger Rathauses
Der an der imposanten Außenfassade durch seine großen Fensterbögen mit den medaillonartigen Oberlichtern charakterisierte große Sitzungssaal befindet sich in der ersten Etage. Gleich neben dem Sitzungssaal liegen die zur Hauptstraße hin konzipierten Arbeitsräume des Bürgermeisters. Zur damaligen Zeit, am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts, war es üblich, dass das Stadtoberhaupt mit seiner gesamten Familie und seinem häuslichen Dienstpersonal das Rathaus während seiner Amtszeit bewohnt hat.
Ebenso gehört ein Standesamt zur Verwaltung der Berliner Bezirke. Deshalb ist es selbstverständlich, dass auch im Lichtenberger Rathaus seit seinem Anbeginn ein mit reichem Stuck geschmückter und mit hölzernen Wandtäfelungen versehener großer Raum für die feierliche Zeremonie einer Eheschließung existiert. Selbstverständlich befindet sich in jedem historischen Rathaus immer auch ein obligatorischer Ratskeller, der meistens eine gesellige Gastwirtschaft beherbergt. Folglich wird der geräumige Gewölbekeller des Lichtenberger Rathauses seit der Neuzeit immer wieder auch als ein Zentrum für Kunst und Kultur genutzt, wenn er nicht gerade geschlossen hat.
Das Lichtenberger Rathaus nach dem Zweiten Weltkrieg
Wenngleich im Verlauf des Zweiten Weltkrieges das Rathausgebäude stark beschädigt worden war, konnten in den Jahren des Wiederaufbaus einzelne Gebäudeteile peu à peu erneuert und wieder genutzt werden. Obwohl im Laufe der Zeit zahlreiche Teile der Innenbereiche saniert und umgebaut worden sind, blieb an vielen Stellen die ursprüngliche Gestaltung erhalten. Offensichtlich trägt das klassische Interieur zum besonderen Charme des Stadtverwaltungsgebäudes bei, in dem heute nicht unüberlegt der Sitz des politischen Bezirksamts von Lichtenberg untergebracht wurde. Während der denkmalgerechten Sanierung des Rathausdaches im Jahre 2017 wurde festgestellt, dass in einem der Türme des Innenhofs seit einiger Zeit mehrere Turmfalken nisten. Nicht nur aufgrund seiner historisch-anmutenden Kulisse, sondern auch wegen dem nebenan befindlichen Rathauspark wird das altehrwürdige Rathaus als ein allseits beliebter Ort für Tagungen, Empfänge und Hochzeiten genutzt.
Hinweis
Das Rathaus in Lichtenberg ist von außen begehbar, im Inneren aber leider nicht barrierefrei.
Link
Berlin im Detail: Rathaus Lichtenberg
Literatur
Fait, Joachim; Horst Büttner, u.a.: Die Bau- und Kunstdenkmale, Band II, hrsg. vom Institut für Denkmalpflege. Berlin 1987, S. 168f.