Städtereisen sind beliebt und angesagt. Städte bieten auf engem Raum enorm viel Geschichte und Kultur. Wie wäre es zum Beispiel mit Tartu, die Universitätsstadt in Estland, die früher Dorpat hieß. Eine Entdeckung.
Diese Reise war für mich eine ganz besondere. Seit ich mich erinnern kann, wollte ich da mal hin – zumindest seit zwanzig Jahren. Meine Urgroßeltern väterlicherseits lebten nämlich dort. Auch die Ur-Urgroßeltern. In meiner Familie gibt es einige Erinnerungsstücke von ihnen und viele Geschichten, Anekdoten, Briefe, Fotos und nicht zuletzt Bücher, Adelstitel, Schatullen, Schachteln und Silberschalen.
Auf Spurensuche im alten und neuen Estland
Mein Urgroßvater, Adolf von Harnack, war ein berühmter Theologe und Wissenschaftsorganisator. Er gründete die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die heutige Max-Planck-Gesellschaft und war eines der letzten Universalgenies, so sagt man. Harnack war sehr fortschrittlich für seine Zeit. So fortschrittlich, dass er in Berlin zwar Rektor der Universität und Generaldirektor der Staatsbibliothek wurde, aber in der Kirche predigen durfte er nicht. Er ist 1851 in Tartu, die Stadt hieß damals Dorpat, geboren. Tartu gehörte zu Livland und Livland zum russischen Reich. Die drei russischen Ostseeprovinzen waren Livland, Estland und Kurland. All diese Orte und Namen hatte ich seit meiner Kindheit im Ohr. Jedenfalls immer mal gehört. Erst nach 1990 war es überhaupt möglich nach Tartu zu reisen. Zu Sowjetzeiten war Tartu eine geschlossene Stadt, in die man als Ausländer so gut wie nicht reisen konnte. Nur mit Sondergenehmigung und ab 17 Uhr musste die Stadt verlassen werden, denn in der Nähe waren sowjetische Raketen stationiert.
Zwischen Raadi Friedhof und Domberg
Wie auch immer, im September dieses Jahres fand an der Universität Tartu ein Kongress zu Harnack statt und ich war eingeladen, einen Vortrag zu halten. Mit großer Freude und ziemlichem Herzklopfen machte ich mich auf den Weg.
Über die Reise hatte ich hier bereits berichtet. Ich war einen Tag vor Tagungsbeginn angekommen. Als ich an einem Sonntagvormittag die Stadt erkundete, war strahlender Sonnenschein. Tartu empfing mich mit offenen Armen, so hatte ich das Gefühl. Ich machte einen Spaziergang vom Hotel Dorpat am Fluss Emajõgi entlang über den Rathausplatz zur Universität. Alles erschien mir heiter und hell, die Wege sind kurz und zu Fuß ist alles gut zu erreichen. Ich war mit dem Organisator der Tagung verabredet. Der Theologe Priit Rohtmets zeigte mir die Universität und lud mich in ein Café ein. Wir gingen in das berühmte Café Werner. Hier gab es hervorragenden Kuchen. Dann fragte Priit mich, ob ich das Grab von Theodosius, meinem Ur-Urgroßvater, sehen möchte. Klar, sagte ich. Also fuhren wir auf den Raadi Friedhof, vorbei an dem Haus, in dem mein Ur-Urgroßvater geboren war, und tatsächlich waren auf dem grünen verwunschenen Ort die Gräber meiner Ur-Urgroßeltern zu finden. Diesem Eindruck konnte ich mich nicht entziehen. 1500 Kilometer von dem Ort wo ich lebe, von Berlin entfernt, sind klare Spuren meiner Familie. Menschen bewegen sich von Ort zu Ort, über Ländergrenzen hinweg. Das war schon immer so.
Am Nachmittag machte ich einen Spaziergang auf den Domberg. Hier im ehemaligen Universitätsviertel sind viele Spuren deutscher Forscher zu finden. Der Arzt und Naturforscher Karl Ernst von Baer (1792 – 1876) war zudem Zoologe, Geograf und Forschungsreisender, entdeckte die menschliche Eizelle. Auch andere Wissenschaftler haben in Tartu gelebt und gearbeitet. Ein großes Krankenhaus, eine Sternwarte und eine Bibliothek erinnern daran. An der Sternwarte Dorpat forschten Astronomen wie Johann Heinrich Mädler.
Der Dom selbst ist heute größtenteils eine markante Ruine. Im erhaltenen Teil befand sich früher die Universitätsbibliothek und jetzt ist hier das sehr fantasievoll und sinnlich gestaltete Museum der Universität zu entdecken, das zum Erkunden und Lernen einlädt. Die Räume sind das Gegenteil von staubtrocken. Hier sind Gedankenwelten zu erspüren und zu erfahren.
Ja, Tartu zeigt sich von allen Seiten.
Die Stadt ist wirklich einen Besuch wert. 2024 ist Tartu Kulturhauptstadt Europas. Spätestens dann komme ich wieder. Und Sie?
Fortsetzung folgt.