Über keine andere Stadt existieren so konträre Meinungen wie über Berlin. Für die einen ist es die einzig ernstzunehmende Metropole Deutschlands; München und Hamburg rufen bei diesen überzeugten Berlinern nur ein müdes Lächeln hervor. Für die anderen ist es ein Konglomerat aus Baustellen, Verwaltungschaos, Bewohnern mit unverständlichem Humor und ungenießbarem Bier.
Wenn meine Eltern, als ich Kind war, sagten, wir fahren zur Friedrichstraße, meinten sie damit meistens, dass sie jemanden von da abholen oder hinbringen wollten. Besuch aus dem Westen, wir hatten viel und oft Besuch aus dem Westen, die über den Grenzübergang zu uns kamen oder wieder ausreisten. Das bedeutete, dass sie sich in Berlin-West ein Visum besorgen und den Zwangsumtausch von ungefähr 20 Mark/West – der Betrag änderte sich mehrmals – bezahlen mussten. Für meine Geschwister, die im anderen Teil der Stadt Schüler und Studenten waren, viel Geld. Daher kamen von meinen vier Geschwistern oft nur einer oder zwei, denn für alle zusammen wäre es zu teuer gewesen. Die Besuche waren schön und intensiv – aber bis Mitternacht mussten alle wieder am Grenzübergang sein.
Heute kann man in der Ausstellung im „Tränenpalast“ – wie der Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße im Volksmund hieß und der heute zum Glück ein Museum ist – Geschichten, Dokumente, Bauten und andere Zeitzeugnisse anschauen. Die Ausstellung hat den Titel „Tränenpalast. Ort der deutschen Teilung“. Der Eintritt ist frei.
Die Friedrichstraße – Einkaufen und viel Geschichte
Heute ist die Friedrichstraße vor allem eine Einkaufsstraße. Hier findet man viele Geschäfte mit bekannten Namen und fast alles, was man braucht. Von Birkenstock bis zur Berliner Designerin für Damenmode Evelin Brandt, vom Kulturkaufhaus mit großer Buchhandlung Dussmann, die täglich bis 24 Uhr geöffnet ist, bis zur französischen Galeries Lafayette mit spezieller Lebensmittel- und Delikatessabteilung und Produkten aus Frankreich. Hier kann man einen Imbiss nehmen. Zahlreiche Cafés wie das bekannte Berliner Kaffee Einstein laden ebenfalls zu einer Pause ein.
Zum Glück gibt es neben Shopping und Geschichte zum Anfassen auch Kunst und Kultur an der Friedrichstraße. Hier ist nahe der Weidendammer Brücke das durch Bertolt Brecht weltbekannte Theater BERLINER ENSEMBLE zu finden, die Komische Oper in der Behrensstraße, das Kabarett DIE DISTEL und das bekannte Revuetheater Friedrichstadt-Palast.
Die Friedrichstraße ist also eine Straße zum Flanieren. Schön wird es auch dadurch, dass sie an einem Fluss, der Spree, liegt. Direkt darüber ist die Weidendammer Brücke, die durch Wolf Biermanns „Ballade vom Preußischen Ikarus“ so bekannt wurde.
„Da wo die Friedrichstraße sacht
Den Schritt über das Wasser macht
Da hängt über der Spree
Die Weidendammer Brücke, schön
Kannst du da Preußens Adler sehn
Wenn ich am Geländer steh...“
Biermann sang das Lied am 13. November 1976 bei seinem berühmten Konzert in Köln. Woraufhin er aus der DDR ausgebürgert wurde, da das Konzert von deren Behörden nicht genehmigt war. Ihm folgten anschließend viele hervorragende Künstler – und man kann sagen, der Untergang dieses Landes begann. Heute verewigen sich besonders gern Liebespaare durch Vorhängeschlösser am Preußischen Ikarus der DDR. Wolf Biermann wird am 17. November 2021 eine musikalische Geburtstagsfete zu seinem 85. Geburtstag im BERLINER ENSEMBLE feiern. Mit dabei sind Freunde, Familie und Wegbegleiter. Soeben habe ich noch 1 Karte ergattert! Als Biermann das Gastspiel in Köln gab, war ich neunzehn Jahre und lebte in der DDR. Ich sah das Konzert, das vier Stunden ging, da Biermann frei improvisierte, im Fernsehen. Es war ein Ereignis, das uns alle aufrüttelte. Immer wieder war ich im Lauf der Jahre bei seinen Konzerten – und bei allem, was man kritisieren kann – so begleiten Künstler uns durch das Leben.
Eine Kosmetikwerbung in Gestalt eines Mosaiks der Firma Gerdeen an der Wand des Bahnhofs Friedrichstraße ist mir seit meiner Kindheit in den sechziger Jahren im Gedächtnis geblieben. Zwei Frauen im ägyptisierenden Stil sind darauf zu sehen. Sie scheinen miteinander zu sprechen und Kosmetik ist auch dabei im Bilde. Besonders ausdrucksstark sind allerdings die Persönlichkeiten der beiden Frauen, die miteinander im intensiven Gespräch zu sein scheinen. Vermutlich war es mit unseren Besuchern aus dem Westen ähnlich. Es gab immer viel zu bereden. Als meine Eltern und ich in unserem grauen VW-Käfer unsere Gäste zur Grenzübergangstelle brachten, war das Mosaik an der Wand zu sehen. 1989, nach dem Mauerfall, fand ich diese mir so rätselhaft deutliche und zugleich hieroglyphenähnliche Abbildung wieder. Dann verschwand sie hinter Buden, Brettern und Balken. 2000 bis 2002 wurde sie restauriert. Und strahlt seither im alten Glanz. So sind es oft die kleinen Dinge, Details, die in Erinnerung bleiben.
Die Friedrichstraße bietet für jeden etwas.