Berlin hat unzählige Kulturräume und Kulturstätten, Theater, Kinos und Opernhäuser. Manche sind immer noch anders. Die Wiesenburg im Herzen des ehemals Roten Wedding war einstmals das größte und fortschrittlichste Asyl für Obdachlose in Deutschland.
Wenn man mit dem BVG-Linienbus M27 von Charlottenburg über Moabit und Wedding nach Pankow fährt, kommt man mitten im Berliner Häusermeer an einer Haltestelle mit dem beschaulichen Namen Wiesenstraße vorbei. Nachdem mal einige Male weitergefahren ist, man hat schließlich zu tun, steigt man an einem schönen Sommersonntag vielleicht doch einmal aus, um zu erkunden, was es mit der Wiesenstraße mitten im Wedding so auf sich hat. Man läuft ein paar Minuten und plötzlich steht man vor einem Areal mit Namen Wiesenburg. Das Tor ist geöffnet, man tritt ein und meint, an einem verwunschenen Ort zu sein. Was ist das? Eine alte Fabrik? Eine Villa? Ein Kunstort? Von allem etwas.
Hinter einem Tor, etwas abseits der Straße, steht ein altes Backsteinhaus. Davor wild zugewachsene Gebäudeteile, Ruinen, in denen Bäume wachsen. Geheimnisvolle Türen, teilweise bunt angemalt. Bewohnbare Ruinen. Hinten fließt das Flüsschen Panke.
Ein großes Kapitel Berliner Sozialgeschichte
Ich erkundige mich danach, wie alles angefangen hat. 1886 gründete eine Gruppe wohlhabender Berliner um den Bankier Gustav Thölde den Asylverein für Obdachlose. Es war die Zeit der Industrialisierung in Berlin. Tausende Menschen kamen vom Land in die Stadt. Wo sollen sie schlafen? Ein Institut freier gesellschaftlicher Humanität und bürgerlicher Selbstverwaltung wollten die Gründer hier schaffen, damit der Staat sich nicht einmischen konnte, verzichtete man auf öffentliche Zuschüsse. Von Polizei und Behörden wollte man unabhängig sein. Damals wie heute gab es eine hohe Zahl von Obdachlosen, die zudem zu der Zeit kriminalisiert waren. Wer kein Zuhause hatte, machte sich strafbar. Die Wohnungslosen versteckten sich in Bretterbuden, in Pferdeställen, unter Brücken und was jedem so einfiel. Wer aufgegriffen wurde, landete im Gefängnis am Molkenmarkt. Dort wurden die Leute eng zusammengepfercht eingesperrt, Krankheiten breiteten sich aus. Prominente Berliner wie der Arzt Rudolf Virchow, der Fabrikant August Borsig, der Kaufmann Carl Bolle und der jüdische Damenmantelfabrikant und Sozialist Paul Singer waren Unterstützer dieses für die damalige Zeit sehr fortschrittlichen und sozialen Asylvereins. In der Wiesenburg gab es 700 Betten für Männer und ab 1907 schließlich 400 für Frauen.
Anonymität und Hygiene. Eine warme Suppe, Kaffee und ein Brötchen
Man kam für ein Dach über den Kopf, musste weder seinen Namen angeben noch Papiere zeigen, wurde nicht nach Religion und Vorstrafen gefragt. Es gab allerdings Vorschriften: vor dem Eintreten und Verlassen des Gebäudes die Hände und das Gesicht waschen. Baden nach Aufforderung des Personals und wenn nötig die Kleidung desinfizieren. Beten oder arbeiten musste man nicht. Jeder bekam ein richtiges Bett für eine Nacht. Keine Pritsche wie im städtischen Asyl. Es gab eine warme Suppe zum Abend und zum Frühstück Kaffee und eine Schrippe. Lärmen, Rauchen, Karten spielen, Branntwein trinken waren verboten. Jeder konnte hier bis zu fünf Mal pro Monat übernachten. Hygiene war Trumpf und Gesundheitsvorsorge. Virchow ist es zu verdanken, dass extrem auf Sauberkeit geachtet wurde. Die Räume waren gefliest, es wurde täglich gewischt, es gab eine eigene Wäscherei. Noch heute stehen die Schornsteine, die einst das Badewasser für bis zu 1100 Bewohner erhitzten. Es gab auch eine Bibliothek. Damit war das Asyl so fortschrittlich, dass es 1897 auf der Weltausstellung in Paris mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde.
Es übernachteten hier mehr als 300 000 Menschen im Jahr. Wanderarbeiter, alte Menschen, junge Frauen, Dienstmädchen.
Der Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Voigt, war hier angeblich Stammgast. Rosa Luxemburg, Carl von Ossietzky, Erich Kästner, Hans Fallada, Kurt Tucholsky, Heinrich Zille kamen, um Milieustudien zu machen und über die Geschichten der Bewohner zu berichten. Nach dem 1. Weltkrieg kamen traumatisierte Kriegsopfer im Asyl dazu. Während der Inflationsjahre ging den Stiftern das Geld aus. Die Stadtverwaltung kam ab 1926 als Förderer dazu. Der Regisseur Fritz Lang drehte hier 1930 seinen Welterfolg M. – eine Stadt sucht einen Mörder. Ein Scheinwerfer ist davon zurückgeblieben.
Das ging so, bis die Nazis kamen. 1933 beschlagnahmten sie das Vermögen des Vereins und übernahmen das Gelände. Hakenkreuzfahnen wurden hier nun bedruckt und genäht. Bomben zerstörten im Februar 1945 die ehemaligen Schlafsäle. Die Wiesenburg fiel in eine Art Dornröschenschlaf. 12 000 Quadratmeter mitten in Berlin Wedding.
Die Wiesenburg ist ein lebendes Gesamtkunstwerk
…das in seiner Einzigartigkeit erhalten bleiben soll, so sagte der Baustadtrat von Mitte, Ephraim Gothe. Die Familie Dumkow, Nachfahren eines der jüdischen Stifter, zogen, nachdem sie im 2. Weltkrieg ausgebombt waren, in das einzige erhalten gebliebene Gebäude des Geländes, ein ehemaliges Beamtenhaus, und wohnen bis heute da.
Eine zweite Blüte erlangte Wiesenburg in den achtziger Jahren und diese hält bis heute an. Es gibt ein Musikstudio, einen Konzertraum und einen riesigen wilden Garten, der bis zur Panke herunterreicht. Dies Atmosphäre inspirierte und inspiriert zahlreiche Künstler. Volker Schlöndorff drehte hier 1978 Szenen aus der Blechtrommel nach dem berühmten Roman von Günter Grass und Rainer Werner Fassbinder 1980 Teile von Lili Marleen.
Heute ist die Wiesenburg ein kreativer Arbeits- und Veranstaltungsort. Künstler und Handwerker haben hier ihre Ateliers und Werkstätten. Der Kulturort verbindet Kunst, Kultur, Handwerk und Soziales. Jazz, Rock, Klassikkonzerte, Performances, Lesungen und Theater haben hier eine einzigartige Bühne in unvergesslichem Ambiente.
Die Dumkows konnten in den achtziger Jahren verhindern, dass Hochhäuser auf dem Gelände gebaut wurden. Seit 2014 gehört das Gelände der Degewo, einem Berliner Wohnungsunternehmen, die erwirkte, dass das Gesamtensemble vom Bund und Land mit 7,5 Millionen Euro zum Erhalt und Weiterentwicklung gefördert wird. Somit ist die Wiesenburg ein Nationales Projekt des Städtebaus. In einem kooperativen Beteiligungsverfahren mit Eigentümern, Bewohnern und Verwaltung wurde ein Sanierungskonzept zur Instandsetzung und Weiterentwicklung beschlossen, das hoffentlich nachhaltig ist. Wir werden sehen, was es bringt. So wie es jetzt ist, wird es nicht bleiben.
Fahren Sie mal hin und machen sich selbst ein Bild. Auch wenn es vielleicht ungewöhnliches Sightseeing ist. Mit einem Bus kann man vieles im Wedding und Gesundbrunnen erkunden.