Wo gibt es in Berlin Möglichkeiten für kreative Entfaltung für alle?
Wo kann man Theaterspielen?
Wo findet man eine Oase in der Großstadt?
Holger Franke kenne ich seit 1981. Damals war er Regisseur, Schauspieler und Autor beim Theater Rote Grütze. Ich war dort Schauspielerin, eine kurze Zeit lang. Die kurze Zeit hat mich geprägt und für das Leben beeinflusst. Die Art und Weise, wie über die Dinge gesprochen und nachgedacht wurde, über Gefühle geredet und zugleich das Leben genossen wurde, war prägend. Damals probten wir das Kinderstück Darüber spricht man nicht!!! Ein Spiel vom Liebhaben, Lusthaben, Kindermachen und Kinderkriegen, vom Schämen und was sonst noch alles vorkommt. Aktuell wurde damals sehr erfolgreich das Stück für Jugendliche Mensch ich lieb dich doch, ein Stück für Leute, die das Leben suchen, zur Drogenproblematik gespielt. Das Theater Rote Grütze brach mit vielen Tabus, war zeitweise in einigen Bundesländern verboten und das bekannteste Stück Was heißt hier Liebe? wurde 1977 mit dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet. Heute gehören diese Theaterstücke zu den Klassikern des Kinder- und Jugendtheaters und werden im gesamten deutschsprachigen Raum, in Europa und in der ganzen Welt gespielt, darunter in Japan, Kanada und Kenia.
Von Berlin in die Provence und wieder zurück
Wie das so ist: Das Theater Rote Grütze ging 1984 oder 1996 – darüber gibt es unterschiedliche Angaben – auseinander. Holger Franke jedenfalls zog nach Südfrankreich in die Provence. Auch dort wurde Theater gespielt, geprobt und Drehbücher für den Film geschrieben. Ich war mehrfach dort in den Jahren zwischen 1987 und 1992. Holger lebte dort auf einem großen Hof, es waren immer viele Leute da und die Sommer waren sehr heiß. Den Hof konnte man nur über krumme Straßen und bergige Wege mit dem Auto erreichen – oder eben mit einem Bus. Das Wasser wurde in einer Zisterne gespeichert und die Toiletten waren unter freiem Himmel auf einem Berg mit Aussicht ins Tal der Vaucluse. Gemeinschaftlichkeit wurde großgeschrieben und unter dem weiten Himmel der Provence war vieles möglich, an das man in der Stadt im Traum nicht gedacht hätte.
Ende des letzten Jahrtausends verloren wir uns aus den Augen. Als ich 2012 wieder nach Berlin kam, um am Berliner Ensemble zu arbeiten – ein Theatertraum hatte sich für mich erfüllt – rief ich Holger an, der mittlerweile in Berlin-Treptow, im Kunger-Kiez lebte. Er lud mich ein, seine Lesungen zu besuchen. In größeren Abständen las er vor mehr oder weniger Leuten in der Galerie KungerKiez Werke von Schriftstellern, die ihm wichtig waren. Oskar Maria Graf, Irmgard Keun, Anna Seghers, Ludwig Turek, Volker Braun.
Es waren immer anregende, schöne, freundliche Abende – das Publikum waren die Leute, die da wohnen. Holger hatte es wieder geschafft, Menschen um sich herum zu versammeln, eine Gruppe zu bilden und trotzdem für sich zu sein, sein Ding zu machen.
Mensch Ludwig – oder wie ich meine Verfassung verlor
Kürzlich hatte er mit einem Solostück – es war seit über zwei Jahren geplant, durch die Pandemie verschoben – nun endlich Premiere. Das Stück mit dem Titel Mensch Ludwig – oder: wie ich meine Verfassung verlor in der Regie von Michael Reinhold Schmitz wird von Holger Franke zugleich nachdenklich und furios gespielt, handelt von Recht und Gerechtigkeit, Hoffnung und Glaube. Die Geschichte, nach einem realen Fall, erzählt von einem, der die Verfassung, das Grundgesetz leidenschaftlich liebt, einen Fehler begangen hat und versucht, nun vor Gericht sein Recht zu bekommen. An der Frage nach Recht oder Gerechtigkeit zerbricht er beinahe. Eine Passion in 14 Bildern. Das Stück ist absolut sehenswert.
Der Spielort ist im Park-Center Treptow zu finden. Die Mall ist gespenstisch leer und man muss das Theater quasi mit der Lupe suchen. Durch Corona sind viele Geschäfte pleite gegangen und der Leerstand war nun die Chance des KungerKiezTheaters, einen Raum zu finden. Man irrt also durch die Mall – und plötzlich steht man wundersamerweise in einem Theater, das technisch mit allem ausgestattet ist, was Profis zum Spielen brauchen.
Das KungerkiezTheater ist ein Off-Theater, in dem professionelle Künstler mit Amateuren und semiprofessionellen Theaterleuten Seite an Seite zusammenarbeiten. Leitender Gedanke ist die Solidarität in den Ensembles. Jeder, der möchte, kann mitmachen und sich beteiligen.
Kindertheaterstücke sind ebenfalls im Spielplan.
Und weiter zum Zirkus
Daneben steht das Zelt des Zirkus Cabuwazi. Hier in diesem Wanderzirkus können sich Kinder und Jugendliche ausprobieren, Freunde finden, zusammen Zirkus machen. Vor Publikum in der Manege auftreten. Die Manege ist ein Raum für Zirkus, Tanz, Theater, Musik und Sprache. In Nachmittagskursen, Schulprojekten, Ferienworkshops und speziellen inklusiven Trainingsangeboten fördert Cabuwazi individuelle Ausdrucksformen, soziale Kompetenzen und gestalterische Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen zwischen 4 und 19 Jahren.
In diesem Jahr gibt es zudem Kurse für Erwachsene. Luftakrobatik für Erwachsene und Gemischtes Training für Erwachsene. Die Kurse sind für die Dauer eines Jahres angelegt und münden am Schluss in eine Aufführung. Sie bieten für manchen die Entdeckung unbekannter Talente, Spaß und Fitness.
Zirkusarbeit ist immer nachhaltig. Weil sie alte Traditionen erhält, pflegt und neue wachruft.
Hier ist lebendiger Kiez zu finden – mitten in Berlin.