Eine kostbare Perle ist das im hohen Norden Brandenburgs gelegene, im frühen 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnte und von den Grafen von Lindow-Ruppin als merkantiles Herzstück ihres neuen Territoriums gegründete Neuruppin. Die heutige Kreis-, Universitäts- und Fontanestadt liegt nordwestlich der Bundeshauptstadt Berlin, im Landkreis Ostprignitz-Ruppin am längsten märkischen Gewässer, dem Ruppiner See, der zum Baden und hübschen Bootspartien einlädt.
Theodor Fontane & Karl-Friedrich Schinkel – zwei berühmte Söhne Neuruppins
Die reizvoll erhaltene Neuruppiner Altstadt – ein zweihundert Jahre gewachsenes Ensemble des Klassizismus – macht den Geburtsort sowohl Heinrich Theodor Fontanes als auch des genialen Multitalents und Städteplaners Karl-Friedrich Schinkel – dessen Baudenkmäler ‚Neue Wache’, ‚Altes Museum’ und Berliner ‚Schauspielhaus’ weit bekannt sein dürften – zu einem Inbegriff preußischer Architektur. Neuruppins kleinstädtisches Ambiente – das nicht nur von Tagestouristen gern besucht wird – wird durch baumgesäumte Alleen mit wohlproportionierten Plätzen repräsentiert.
Die Apotheke zum goldenen Löwen – Geburtsort Theodor Fontanes
Ein mystischer Ort für Literaturliebhaber, begeisterte Wanderer und andere Neuruppin-Flaneure ist das in der heutigen Karl-Marx-Straße (Nr. 84) gelegene und nach einem Stadtbrand im Jahr 1787 neuerbaute Wohnhaus mit der Löwenapotheke, in dem am 30. Dezember 1819 der wichtigste Vertreter des poetischen Realismus, der Reiseschriftsteller, Chronist und Apothekersohn Theodor Fontane (eigtl. Henri Théodore) das Licht der Welt erblickte. Noch immer existiert diese Pharmazie, sowohl mit dem goldenen Löwen als markantes Wappentier als auch mit der Gedenktafel an der Fassade für den großen Sohn der Stadt. Das ursprünglich doppelgeschossige, in der Mitte des 19. Jahrhunderts um eine dritte Etage erweiterte Haus ist ein für Neuruppin typisch massives Gebäude des Klassizismus, das jetzt in privater Hand ist, so dass es für interessierte Besucher bedauerlicherweise seine Eingangspforte nicht mehr öffnet.
Fontanes Vater Louis Henry – charmanter Fabulierer und eifriger Spieler
Fontanes Vater – Louis Henry – hatte das damals noch zweigeschossige Haus mit sog. Putzgliederung und ornamentalem Dekor sowie die im Erdgeschoss befindliche Apotheke kurz vor Geburt seines später von breiten Bevölkerungsschichten gelesenen Filius Theodor 1819 günstig erworben. Aus diesem Grund war der Senior mit seiner Familie in die märkische Kleinstadt am Ruppiner See gezogen. Ebenso wie Vater Louis Henry besaß Mutter Emilie Fontane, geb. Labry, hugenottische Wurzeln. Diese gelungene Mischung aus französischem Esprit und preußischer Disziplin werden für Theodor Fontanes langes, fast 79 Jahre währendes Leben charakteristisch sein. Wir können uns gut vorstellen, dass Louis Henry Fontane als Apotheker zu den geachteten Honoratioren der pittoresken Landstadt zählte.
Er erfreute sich als charmanter Fabulierer und kenntnisreicher Connaisseur weitreichender Beliebtheit. Aber ein bedauerlicher Kardinalfehler – der ihn in eine selbstverschuldete Bredouille bringen sollte – war seine notorische Glücksspielsucht. Nachdem er innerhalb weniger Jahre sein gesamtes Budget durchgebracht hatte, musste Louis Henry seine Apotheke sowie sein Haus samt eigener Wohnung in der Beletage veräußern. Später siedelte die Familie 1827 in die mondäne Bad- und Handelsstadt Swinemünde – das heutige Swinoujście (PL) – mit deren exzellenten breiten Sandstrand an der Ostseeküste auf die Insel Usedom über. Nicht umsonst sprechen die für ihr vorlautes Mundwerk bekannten Berliner Bürger augenzwinkernd von der ‚Badewanne Berlins’ – wie sie das Baltische Meer schelmisch bezeichnen – in die sie aber dennoch immer gerne zu ‚klettern’ pflegen.
Fontanes Schottlandreise, ‚Wanderungen durch die Mark Brandenburg’ & ‚Der Stechlin’
Zu Theodor Fontanes vielgestaltigem Œuvre gehören seine in 5 Bänden erschienenen ‚Wanderungen durch die Mark Brandenburg’, nach deren detaillierten Schilderungen ausdauernde Läufer noch heute wandern oder bequemer in einem eleganten Reisebus fahren können. Die Mark war in der damaligen Literatur, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, lange Zeit stiefmütterlich behandelt worden. Dennoch standen dem Neuruppiner Autor reichlich Quellen und praktische Erfahrung zur Verfügung – erst 1858 hatte er eine ausgiebige Tour nach Schottland in das sagenumwobene Land der Abteien, der Burgruinen, der Heldenepen und Loch Ness absolviert. Anschließend verarbeitete Fontane seine Schottlandreise literarisch im Reisebericht ‚Jenseits des Tweed’ (1860). In seinen nachfolgenden ‚Wanderungen’ – dessen 1. Band ‚Die Grafschaft Ruppin’ 1861 erscheinen wird – weist er auf verfallene Klosterruinen und uralte Dorfkirchen hin, „von deren Existenz höchstens die nächste Stadt eine leise Kenntnis hatte“1. Fontane schreibt über die planvolle Kolonisation der Mark durch die aus der ‚Mutter’-Abtei Cîteaux in Burgund über zahllose Tochterklöster (Filiationen) herbeigeströmten Zisterzienser, wie es in mehreren Kapiteln2 über die Klöster des Ordens, in Lehnin auf der Hochfläche der Zauche und in Lindow im Ruppiner Seenland gelegen, detailliert nachlesbar ist.
Sein sicherlich bekanntester und 1975 verfilmter Roman: ‚Der Stechlin’, entstanden in den Jahren 1895-97, wird sein letztes großes Spätwerk sein. In jenem dient das märkische Zisterzienserkloster Lindow als Inbild für das fiktive Kloster Wutz. Zur Lindower Abtei gelangen wir in einem komfortablen Reisebus von der Goldenen-Löwen-Apotheke in Neuruppin auf der B167 in nur knapp 20 Minuten.
Literatur
1Zit. Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 1, Die Grafschaft Ruppin. Das Oderland, hg. v. Christfried Coler, Berlin 1960. S. 11; ‚Kloster Lindow’, S. 283-87
2Vgl. derslb.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 3, Havelland, a.a.O. Kapitel: ‚Die Zisterzienser in der Mark’, S. 37ff. ‚ Kloster Lehnin’, S. 45ff. Kloster Chorin, S. 54ff.
Piltz, Georg: Kunstführer durch die DDR, Leipzig · Jena · Berlin, 1972/3. Zu Neuruppin, S. 130
Trost, Heinrich (Red.): Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR, Bezirk Potsdam, Berlin (Ost) 1978.
Zu Neuruppin, S. 230