Oberschwaben ist die deutsche Toskana. Nicht nur aufgrund der überaus reizvollen Hügellandschaft, die sich gen Süden zum Bodensee öffnet, sondern vor allem wegen der kulturellen Bedeutung für den gesamten nordalpinen Raum. Neben stolzen mittelalterlichen Handelsstädten wie Ulm, Augsburg, Konstanz oder Ravensburg sind heute vorrangig die unzähligen Kirchenbauten entlang der oberschwäbischen Barockstraße unverzichtbare Ziele für die Kulturreisenden.
Die enorme Fülle kleinerer und größerer Barockkirchen zwischen Donau, Lech und Alpen legt es nahe, sich auf einige ausgesuchte Perlen zu konzentrieren. Wie wäre es etwa mit einer Busrundreise zu Höhepunkten der Orgelbaukunst in Oberschwaben, um das optische Erlebnis von Architektur, Stuck und Freskomalerei um einen klanglichen Genuss zu ergänzen?
Zur Basilika St. Martin in Weingarten – zum schwäbischen Petersdom
Unsere Orgelrundfahrt beginnt ganz klassisch mit der monumentalen Basilika Sankt Martin in Weingarten. Der schwäbische Petersdom ist mit 117 Metern Länge die größte Barockkirche nördlich der Alpen. Fast noch berühmter als die Kirche selbst ist aber die 1737-1750 von Joseph Gabler geschaffene Orgel mit ihren 6890 Pfeifen, die wie alle Instrumente auf dieser Tour regelmäßig bei Konzerten erlebbar ist. Sie gilt als eine der schönsten Barockorgeln Europas. Das sagenumrankte Instrument ist mit seinem Rokokoprospekt aber auch sonst ein echter Blickfang und Führungen offenbaren allerlei Kurioses rund um die vielleicht bedeutendste Barockorgel im deutschsprachigen Raum.
Der Orgelbauer Joseph Gabler, auch in der Klosterkirche Ochsenhausen
Ein Erstlingswerk Joseph Gablers (1700-1771) birgt die im 18. Jahrhundert barockisierte Klosterkirche St. Georg in Ochsenhausen, dessen farbenfroher Orgelprospekt sich harmonisch in den prachtvollen Kirchenraum einfügt. Lange in Vergessenheit geraten, übertreffen die Instrumente Gablers nach Meinung von Fachleuten gar das Können Silbermanns. Gabler war Schreiner und Orgelbauer. Dies befähigte ihn, das barocke Ideal eines Gesamtkunstwerkes zu bauen.
Ein weiterer großer oberschwäbischer Orgelbauer war Johann Nepomuk Holzhey (1741-1809), der Schöpfer der Hauptorgel in der nahen, nur 10 Kilometer entfernten Klosterkirche Rot an der Rot. Im direkten Vergleich mit dem Ochsenhausener Prospekt zeigt sich hier, wie auch an der übrigen Ausstattung, bereits der Stilwandel zum Klassizismus. Während man den Orgelklängen lauscht und die meisterhaften Deckenfresken Januarius Zicks bestaunt, lässt sich darüber sinnieren, dass es nur ein gutes Jahrzehnt nach Fertigstellung der Kirche mit der barocken Baulust endgültig vorbei war.
Von Oberschwaben ins Allgäu, zur Abtei Ottobeuren
Nachdem Oberschwaben jahrhundertelang von unzähligen, meist nur eine Stadt oder ein Kloster umfassenden Kleinstaaten geprägt war, die sich gegenseitig zu kulturellen Höchstleistungen anspornten, machte Napoleon mit dem schwäbischen Flickenteppich 1802 jäh Schluss. Ein recht willkürlicher Grenzverlauf teilt seither den westlichen württembergischen vom östlichen bayerischen Teil Oberschwabens.
So erklärt sich, warum auch die berühmteste Teillandschaft Oberschwabens, das Allgäu, Teil unserer Orgelrundfahrt ist. Die Alpen stets im Blick, nähern wir uns der größten barocken Klosteranlage Europas, die zudem als Vollendung des süddeutschen Rokokos gilt: der Abtei Ottobeuren. 1.200 gemalte und skulptierte Engel fordern hier geradezu einen weiteren Orgel-Superlativ, Karl Joseph Riepp (1710-1775) hat ihn geschaffen. Die beiden Chororgeln, die den oberen Abschluss des überaus reich verzierten Gestühls von Johann Joseph Christian bilden, sind die einzigen im Schwäbischen erhaltenen Instrumente Riepps, der zahlreiche Werke in Burgund schuf. Daher verbinden seine Chororgeln in Ottobeuren auch harmonisch deutsche und französische Klangbilder.
Nach Ulm und weiter. Nach Roggenburg und zum Ulmer Münster
Südöstlich von Ulm ist das Prämonstratenserkloster Roggenburg mit seiner heiter-fröhlichen Rokokokirche ein beliebtes Ausflugsziel. Höhepunkt der Ausstattung ist die Große Roggenburgerin, deren beschwingter Orgelprospekt darüber hinwegtröstet, dass das barocke Instrument dahinter leider nicht mehr erhalten ist. Sie zählt zu den elegantesten in Süddeutschland.
Die Roggenburger Orgel ist nicht das einzige Beispiel dafür, welch bewegte Geschichte manche Königin der Instrumente hinter sich hat. Ein tragischer Kriegsverlust ist etwa die Orgel des Mozartfreunds Johann Andreas Stein in der Augsburger Barfüßerkirche. Dieses Barockinstrument ersetzte wiederum eine Renaissanceorgel des Marx Günzer von 1609, die nicht etwa zerstört, sondern in der kleinen Dorfkirche von Gabelbach neu platziert wurde. Aus heutiger Sicht ein Glücksfall, denn welches Dorf kann sich schon rühmen, die älteste erhaltene Orgel Süddeutschlands zu besitzen? Gerade in den ehemals Freien Reichsstädten finden sich sogar noch ältere Orgelprospekte, etwa den des italienischen Instruments in der Augsburger Fuggerkapelle oder im Konstanzer Münster.
Den krönenden Abschluss unserer oberschwäbischen Orgelreise könnte ein Besuch im weltberühmten Ulmer Münster bilden. Der größte deutsche Kirchenraum des Mittelalters, bekrönt vom höchsten Kirchturm der Welt, gefüllt mit Meisterwerken spätgotischer Kunst, lohnt schon alleine den Besuch der gewaltigen Kathedrale. Aber erst eines der nahezu täglich stattfindenden Konzerte auf der 8.900 Pfeifen umfassenden Walckerorgel von 1967, einer der größten weltweit, lässt endgültig den Wunsch reifen, die Route zu den Königinnen der deutschen Toskana gleich noch einmal abzufahren.