Das mit 50.000 m2 größte erhaltene Industriedenkmal Deutschlands lädt zum Stadtteilspaziergang ein.
Auch vom Wasser aus bietet sich ein toller Anblick. Entdecken Sie Klein-Venedig mit einer italienischen Gondel.
Speisen Sie direkt am Wasser und bestaunen Sie die prächtigen Fassaden der ehemaligen Garnfabrik!
Im 19. Jahrhundert gingen Funktionalität und Ästhetik noch Hand in Hand. Zumindest wenn das Kapital dafür da war. Und es gab reichlich Kapital, als im Leipzig der Gründerzeit Industriepioniere wie Karl Heine ganze Stadtviertel aus dem Boden stampften. Mit Infrastruktur zu Wasser und zu Land wurden Fabriken vernetzt und Industrie zukunftsfähig gemacht.
Die Wollgarnfabrik Tittler & Krüger
Und an einer solchen Schnittstelle, den Stadtteilen Plagwitz und Schleußig, liegen die ehemaligen Buntgarnwerke. 1875 wurde der Grundstein für die Wollgarnfabrik Tittel & Krüger gelegt. In mehreren Ausbaustufen expandierte die Fabrik bis 1906. So lag sie schließlich beiderseits der Weißen Elster und grenzte mit über 500 Metern ihrer Fassade ans Wasser. Spinnereien, Webereien und viele weitere spezialisierte Zweige der Textilindustrie waren auch damals schon sehr wasserintensiv. Räder, Riemen und Rotoren wurden allerdings zunehmend nicht mehr von Dampfmaschinen angetrieben, die ja schon im englischen Bergbau des 18. Jahrhunderts zum Einsatz gekommen waren. Sondern dank der Elektrifizierung konnte mittels Strom gesponnen und zu Garn gezwirnt werden.
Die Buntgarnwerke – Industriekultur am Wasser
Aber vor allem gab es das ehrgeizige Projekt, über den hier von der Weißen Elster abzweigenden Karl-Heine-Kanal Leipzig zu einer Stadt mit Zugang zum Meer zu machen. Aber selbst der Durchbruch zum am Stadtrand beginnenden Elster-Saale-Kanal wurde nie verwirklicht. Und dem Elster-Saale-Kanal fehlen bis heute mehrerer Kilometer bis zum Anschluss an die Saale. Diese mündet bekanntlich in die Elbe und dann ist es gefühlt schon gar nicht mehr weit bis zum Meer. In Realität lässt es sich von den Buntgarnwerken lediglich bis zum Lindenauer Hafen im Leipziger Stadtteil Lindenau paddeln. Dies ist auch sehr beliebt, insbesondere in den Sommermonaten. Paddelt man die Weiße Elster nach Süden, kann man bis ins Leipziger Neuseenland gelangen.
Auch die Umgebung der Buntgarnwerke ist einen Spaziergang oder eine Bootstour wert
Mit dem Reisebus ist die Aussicht auf die sowohl roten als auch sandsteinfarbenen gebänderten und unter Denkmalschutz stehenden Klinkerfassaden natürlich nicht ganz so spektakulär, wie wenn man vom Wasser aus an ihnen vorbeigleitet. Die Busse der Leipziger Stadtrundfahrten fahren ganz bedächtig über die Elsterbrücke südlich und über die Könneritzbrücke ein kleines Stück nördlich der Buntgarnwerke. Daran lässt sich erkennen, wie beliebt das Areal und die Stadtteile bei Besuchern sind. Die Könneritzbrücke ist übrigens selbst ein sehr sehenswertes technisches Industriedenkmal, dessen Geschichte ebenfalls bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht.
Zu Fuß kann man sich dem Gebäudekomplex der Buntgarnwerke von der Nonnenstraße aus nähern. Die gewaltige Fassade ist weithin nicht zu übersehen. An der einen oder anderen Stelle lässt es sich hier in Lichthöfe eintreten, die bei der Umgestaltung der ehemaligen Fabrik zu modernen Wohnlofts und Apartments entstanden sind. Überhaupt lohnt es sich, hier beiderseits der Weißen Elster barrierefrei durch die Stadtteile Plagwitz und Schleußig zu laufen. Insbesondere die Holbeinstraße (an welcher der Erweiterungsbau der Buntgarnwerke liegt) und die Brockhausstraße sind mit ihren Häuserreihen und zahlreichen Bäumen sehr wohltuend und beruhigend. Überquert man die Könneritzstraße, die kleine Hauptstraße Schleußigs mit Geschäften und ein wenig Gastronomie, gelangt man in einen Park. Dieser führt als Teil des Leipziger Auwaldes auf Fuß- und Fahrradwegen bis zum Elsterflutbett und zur Pferderennbahn Scheibenholz. Das ist allerdings dann schon ein halbstündiger Spaziergang – für eine Strecke, wohlgemerkt.
Verwobene Fäden der Geschichte
Zurück zu den Buntgarnwerken, in denen vor über 100 Jahren 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter schufteten. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde hier dann beispielsweise auch edle Kaschmirwolle verarbeitet und daraus erzeugte Produkte international erfolgreich vertrieben. Zu DDR-Zeiten arbeitete die Fabrik als VEB Buntgarnwerke Leipzig weiter. Nach der Wiedervereinigung war sehr schnell Schluss. Der Faden der stolzen Geschichte wurde abgeschnitten und von der Treuhand abgewickelt. Hunderte Arbeiterinnen wurden entlassen und samt Gerätschaften alles nach Tschechien gebracht, wo nochmal deutlich preiswerter produziert werden konnte.
Die Buntgarnwerke im 21. Jahrhundert
Eigentlich ging es mit dem Gebäudekomplex erst wieder so richtig aufwärts, als das sehr hochwertig sanierte Objekt im Jahr 2000 auf der Expo präsentiert wurde. Das zeitigte zwar noch nicht unmittelbar Erfolg, aber im Zuge der Etablierung des Leipziger Westens als Kunst- und Gründerstandort in den letzten zwei Jahrzehnten ging es doch deutlich voran. Inzwischen sind hier noble Immobilienbüros und über zwei Etagen gehende Luxuswohnungen entstanden. Lofts mit riesigen Fensterfronten und Blick auf die Weiße Elster. Es gibt kleine Dachterrassen und einen den Mietern zugänglichen 500 m2 großen Dachgarten mit Blick über Leipzig. In den Genuss werden Sie bei Ihrem Besuch leider nicht kommen können, aber wir haben einen anderen Leckerbissen für Sie im Angebot. Ein italienisches Restaurant direkt am und auf dem Wasser. Für den sizilianischen Besitzer ist das hier Klein-Venedig. Und tatsächlich gibt es hier Gondeln, die bei Reservierung für bis zu fünf Personen gebucht werden können. Dann erleben Sie die Buntgarnwerke vom Wasser aus. Aber auch wenn Sie nur auf der Terrasse auf Wasserhöhe Platz nehmen, werden Sie an einer Pappa al Pomodoro (Tomatensuppe mit Büffelmozzarella), an Tagliolini al Gondoliere (in Konjak geschwenkte Scampi mit Bandnudeln) oder an Saltimbocca alla Romana (Kalbsmedaillon mit Salbei in Weißweinsauce) ihre Freude haben. Dazu ein Glas Primitivo oder Bardolino, der Blick übers Wasser und das Gefühl, dass Leipzig eine ganz besonders lebenswerte Stadt mit viel Geschichte ist!
Hinweise
- Es ist ziemlich herausfordernd, in den engen Wohnvierteln einen Parkplatz für einen Reisebus zu erwischen. Wenn es nicht gelingen sollte, bleibt tatsächlich nur, auf dem großen Parkplatz am Küchenholz Park zu stehen (Antonienstr. 8). Von dort sind es etwa 1,5km zu Fuß bis zu den Buntgarnwerken. Allerdings kann das bereits mit einem Spaziergang durch den schönen Stadtteil Schleußig verbunden werden.
- Adresse der Buntgarnwerke: Nonnenstraße 21 (westlich der Weißen Elster im Stadtteil Plagwitz); Holbeinstraße 14 (östlich der Weißen Elster im Stadtteil Schleußig)
- In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Buntgarnwerken finden Sie das italienische Restaurante da Vito mit Freisitz an der Weißen Elster. Auch größere Gruppen finden hier nach Vorreservierung Platz. Kontakt über Vito Signorello unter 0172-3406538 oder unter 0341-4802626. Auf diesem Weg können Sie auch eine Gondelfahrt für bis zu fünf Personen buchen. Sie kostet unabhängig von der Personenanzahl 98€ und kann auch als Geschenkgutschein ausgegeben werden. Das Restaurant hat ganzjährig geöffnet, der Freisitz in Abhängigkeit von der Witterung.
Lesenswert
Thomas Manns Der Tod in Venedig ist in dem Jahr entstanden, als es die höchste Beschäftigungsquote in den alten Buntgarnwerken gegeben hat. Im Jahr 1911. Vielleicht ist die im Fischer Verlag erschienen Novelle eine Lesereise wert – bevor es mit dem Reisebus zu den Gondeln von Leipzig geht.