Selbstverständlich wollen wir nicht nur die äußere Architektur der Stadtpfarrkirche Sankt Marien und Sankt Martin in Wittstock bewundern, sondern wir möchten uns auch das Innere des gotischen Gotteshauses mit seinem reichen Inventar anschauen, das wir deshalb jetzt besuchen. Überdies können Musikliebhaber in den Sommermonaten klassische Konzerte in der ehrwürdigen Pfarrkirche anhören.
Nachdem wir die gotische Sankt Marien – und Sankt Martin-Kirche betreten haben, fällt es sofort auf, dass das dreischiffige Langhaus trotz seiner gedrückten Proportionen als weiträumig von uns wahrgenommen wird. Unser primärer Eindruck wird durch die im Zuge der Restaurierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte weiße Tünchung noch zusätzlich verstärkt. Außerdem sind die spitzbogigen Arkaden und die diversen Pfeiler der kreuzrippengewölbten Backsteinhallenkirche reich gegliedert. Allerdings waren die spätgotischen Kreuzrippengewölbe erst gegen Ende des Mittelalters in den Jahren von 1512-19 nach einem vorherigen Brand durch den erfahrenen Baumeister Christoph von Lüneburg eingefügt worden. Jenen sollten wir nicht mit seinem adligen Namensvetter Christoph von Braunschweig-Lüneburg-Harburg (*1570) verwechseln.
Bildschnitzer Claus Berg und ein spätgotischer Hochaltar
Unser Blick wird zunächst vom spätgotischen Hochaltar gefesselt, der nicht nur aus zwei aufeinandergesetzten Schnitz- oder Flügelaltären besteht, sondern der sich auch durch seine gute Qualität auszeichnet.
Der obere, etwas ältere Altar datiert in die Jahre von 1510-20. Hingegen entstand der untere Flügelaltar um das Jahr 1530 in der Lübecker Werkstatt des spätgotischen Bildschnitzers Claus Berg (*1475).
Mit ein bisschen Fantasie können wir mutmaßen, dass seine lebendigen Figuren auch in einer Lucas Cranach-Schule angefertigt worden sein könnten. Der aus einer niederdeutschen Familie stammende Claus Berg war ein begnadeter Meister, der sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht nur in seiner an der Lübecker Bucht gelegenen Heimat- und Hansestadt, sondern auch darüber hinaus im benachbarten Dänemark, im Kongeriget Danmark, einen weit geachteten Namen gemacht hatte.
Neben dem unteren Teil des Schnitzaltars in der Wittstocker Sankt Marien Pfarrkirche sollte auch Meister Bergs bekannter Hochaltar in der gotischen, aus dem 14. Jahrhundert stammenden Kathedrale Sankt Knud in Odense genannt werden, die auf der drittgrößten dänischen Insel Fünen steht. Ein weiteres bedeutendes Werk von Berg ist sein Altar in der Marienkirche, der ‚Kirche unserer (lieben) Frau’, der sogenannten Vor Frue Kirke, die sich in der zweitgrößten dänischen Stadt, in Århus befindet.
Die ‚Schöne Madonna’ von Wittstock und der Prager Marienkult
Unsere ganze Aufmerksamkeit wird nun von der überlebensgroßen, künstlerisch hervorragend aus Sandstein gestalteten Madonnenfigur ‚Maria mit Kind’ vom Ende des 14. Jahrhunderts vollständig beansprucht. Es gibt die große Vermutung, dass die in guter Qualität ausgeführte und vom Volksmund als ‚Schöne Madonna’ bezeichnete Plastik als einziges Bildwerk aus einem größeren Figurenzyklus in der leider nicht mehr existierenden Kapelle der Wittstocker Burg erhalten geblieben ist.
Unser Buskompassautor weist die geneigte Leserschaft an dieser Stelle noch einmal darauf hin, dass der trutzige, mittelalterliche Feudalsitz ab dem Jahre 1270 den einflussreichen Havelberger Bischöfen als offizielle und komfortable Residenz gedient hatte.
Die in idealisierter Schönheit und hoheitsvoller Würde dargestellte junge Muttergottes trägt sowohl eine mit Engelsfiguren gestaltete als auch mit einer Inschrift versehene, plastisch durchgebildete Krone. Die ‚Schöne Madonna’ hat das nackte Christuskind auf ihren Arm genommen, das eine Taube in seinen Händen hält. Mit dieser Geste spielte der mittelalterliche Bildhauer auf die apokryphe, die zweifelhafte Erzählung an, in der das junge Jesuskind einige Tontauben mit seinem Atem zum Leben erweckt haben soll.
Zudem verdeutlicht die fließende Faltengebung des Gewandes der Wittstocker Madonnenfigur sowohl die stilistische Verwandtschaft als auch den engen Werkstattzusammenhang mit den von böhmischen Künstlern angefertigten Skulpturen des Lettners, der Chorschranke, am Sankt Mariendom zu Havelberg.
Es sollte somit deutlich geworden sein, dass eine innere Verbindung mit dem seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in Böhmen durch den Prager Hof stark geförderten Marienkult bestand. Schließlich hatte der eifrig protegierte Marienritus auch im weit vom böhmischen Prag entfernt gelegenen Wittstock dazu geführt, das deren imposante Stadtpfarrkirche neben dem Heiligen Martin nun auch ein zweites Patrozinium in der Gestalt der Heiligen Muttergottes zu Seite gestellt worden war. Die mittelalterlichen Wittstocker Bürger und Kaufleute dürften damit sehr beruhigt gewesen sein, dass sie sich fortan gleich von zwei Heiligen höheren Beistand und Schutz für ihre formidable Pfarrkirche sowie für den sie umgebenen Markt- und Handelsplatz zugesichert hatten.
Die Renaissancekanzel mit Jesus von Nazareth, der ‚Erlöser der Welt’
Anschließend wenden wir uns der am Beginn des 17. Jahrhunderts entstandenen Renaissancekanzel zu, die in den danach nachfolgenden Jahrhunderten mindestens dreimal restauriert worden war. Gleichermaßen für fromme Gläubige und für interessierte Besucher zeichnet sich dieses Kunstwerk deutlich durch sein reiches Renaissance-Dekor sowohl am eigentlichen Korb als auch am oberen Schalldeckel mit qualitätsvollen figürlichen Schnitzarbeiten aus. Es gilt an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass der große Schalldeckel besonders aufwendig gestaltet worden war. Seine giebelartigen Aufätze tragen nicht nur die Reliefs der vier Evangelisten – Matthäus, Markus, Lukas und Johannes – sondern auch die Statuette ‚Christi als Weltenherrscher’, der zugleich als Christus Pantokrator bezeichnet wird. Dazwischen stehen kleine Figürchen der vier Haupt- oder Kardinaltugenden, der virtutes cardinales, die Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung symbolisieren. Bekrönt wird der Schalldeckel der Kanzel von einem runden Säulentempelchen auf dem eine Salvatorfigur steht, die Jesus von Nazareth als Erlöser der Menschen im Sinne der christlichen Heilslehre verkörpert. Salvator mundi ist dabei der Ehrentitel, der auf Christus als den ‚Erlöser der Welt’ verweist.
Darüber hinaus komplettieren die kleinen Engelsputten mit den verschiedenen Leidenswerkzeugen das komplette Heilsprogramm, das an der Wittstocker Renaissancekanzel ausgesprochen plastisch dargestellt worden ist.
König David – Monarch von Judäa und Israel
An dieser Stelle soll zudem das aus der Spätgotik stammende und aus Eichenholz gefertigte Sakramentshäuschen erwähnt werden, das gleichermaßen unsere längere Aufmerksamkeit verdient.
Am Ende unseres informativen Kirchenbesuchs schweift unser Blick zur imponierenden Orgelempore hinauf, an deren Brüstung drei hübsche Schnitzfiguren – besonders die gelungene Skulptur des alttestamentarischen, um 1000 v.Chr. lebenden Königs von Judäa und Israel, David – angebracht worden sind. Sie dürften wohl von einem älteren, barocken Orgelprospekt, der Schauseite des großen Tasteninstruments, herstammen. Sowohl der auf einer mächtigen Hufeisenempore gelegene Orgelprospekt als auch das Gestühl waren erst im späten 19. Jahrhundert in den Innenraum der Wittstocker Stadtpfarrkirche eingefügt worden. Die drei hoch über unseren Köpfen an der weißgetünchten Decke des Langhauses montierten, großen Messingkronleuchter datieren hingegen bereits in das 17. Jahrhundert.
Wir gönnen uns nur eine keine Pause und steigen subito in unseren wartenden Reisebus ein, der uns geschwind zur Alten Bischofsburg fährt. Nachdem wir nun schon so viel von den mächtigen Havelberger Bischöfen und ihrem vier Jahrhunderte langen sowie prägenden Einfluss auf das mittelalterliche Wittstock gehört haben, wollen wir uns jetzt ganz persönlich ein deutlicheres Bild von den bis in unsere Tage erhalten gebliebenen Relikten ihrer einstmals imposanten Residenz machen.
Literatur
Vgl. Büttner, Horst; Ilse Schröder & Christa Stepansky: Kunstdenkmäler, Bildband IV, hg. vom Institut für Denkmalpflege, Berlin 1987. Texte zum Interieur der Stadtpfarrkirche Sankt Marien & Sankt Martin. S. 41f. Nr. 75, ‚Schöne Madonna’; S. 67, Nr. 133, Sakramentshaus; S. 80, Nr. 166, Kanzel; Bildtafeln 75, 133 & 166
Vgl. Müller, Hans: Dome ∙ Kirchen ∙ Klöster – Kunstwerke aus zehn Jahrhunderten, ein Tourist-Führer. Berlin/Leipzig 21986. S. 258f. Wittstock. Pfarrkirche Sankt Marien
Vgl. Trost, Heinrich, u.a.: Die Bau- und Kunstdenkmale, hg. vom Institut für Denkmalpflege, Berlin 1978, S. 437ff.