Wer an mittelalterlicher Backsteingotik Freude hat, der sollte sich nach einem Rundgang in der Sankt Trinitatis-Kirche und dem Besuch der 750 Jahre alten ‚Wichmann-Linde’ ebenso die beiden erhalten gebliebenen Hospitalkapellen Neuruppins anschauen.
Nach unserem interessanten Rundgang in der ehemaligen, auf dem heutigen Niemöllerplatz stehenden, Klosterkirche St. Trinitatis, der ‚Dreifaltig-/Dreieinigkeit’, und der benachbarten 750 Jahre alten ‚Wichmann-Linde’, unter der das Grab des legendären Stifters der Dominikanerabtei, Prior Wichmann, vermutet wird, haben wir jetzt die Absicht, noch ein weiteres gotisches Gebäude, eine sogenannte Hospitalkapelle, in Neuruppin aufzusuchen. Mittelalterliche Hospitalkapellen, die noch heute in zahlreichen märkischen Städten existieren, wie die Berliner Heilig-Geist-Kapelle, sind zum einen ein einfach gestalteter Kapellenbau oder zum anderen ein separater Bereich in einem Hospital, der für persönliche Andachten aber auch für Gottesdienste genutzt wird. Von den insgesamt vier Neuruppiner Hospitalkapellen ist die Siechenhauskapelle das jüngste Kirchlein. Daneben gab es noch drei weitere Kapellen, Sankt Spiritus, Sankt Georg und Sankt Gertraud, von denen nur die Sankt Georg Hospitalkapelle problemlos die zahllosen Wechsel der Jahrhunderte überstand und bis in unsere Tage erhalten blieb.
Um von der früheren Dominikanerklosterkirche St. Trinitatis zur Neuruppiner Siechenhauskapelle zu gelangen, bewegen Spaziergänger sich zunächst nach Südosten, um anschließend links in die Poststraße einzubiegen, auf der sie geradeaus weiter gehen. Schließlich schwenken Promenierende nach rechts in die Siechenhausstraße ein. Unter der offiziellen Hausnummer 10 verbirgt sich die Siechenhauskapelle. Von der Post- zur Siechenhausstraße dürfte es ein ca. 230 Meter langer Fußweg sein, der in 3 Minuten zu bewälti-gen ist, wobei das örtliche Terrain einen weitgehend ebenen Charakter aufweist. Weil wir diese kurze Strecke an der frischen Luft per pedes gehen wollen, fährt unser Reisebus langsam hinter uns her.
Was Sankt Lazarus mit der Siechenhauskapelle zu tun hat?
Die Siechenhauskapelle, nach der die Straße, in der die Kapelle liegt, auch ihren Namen trägt, hieß zur Zeit ihrer mittelalterlichen Erbauung eigentlich Hospitalkapelle Sankt Lazarus. Lazarus, Bruder der Maria und der Martha von Bethanien, ist ein Mann des Neuen Testaments. Er war mit Jesus befreundet, der jenen, nachdem er bereits 3 Tage in seinem dunklen Grab gelegen hatte, wieder zum Leben erweckte (Johannes 11). Nach der im 11./12. Jahrhundert entstandenen Legende soll Lazarus mit seinen beiden Schwestern in die südfranzösische Provence gekommen und erster Bischof von Marseille, dem antiken Massalia, an der weiten Mündung des Flusses Rhône ins Mittelmeer, dem Bouches-du-Rhône, geworden sein.
Schnell entwickelte sich damals die Legende von der außergewöhnlichen Erweckung des Lazarus zu einem beliebten Motiv in der mittelalterlichen Kunst. Außerdem wurde er zum beliebten Schutzpatron vieler kirchlicher Gebäude, wie an der Hospitalkapelle Sankt Lazarus in Neuruppin.
Schwertfeger Klaus Schmidt stiftete eine Kapelle
Die im Jahre 1491 eingeweihte Sankt Lazarus-/Siechenhauskapelle ist ein kostbares Schmuckstück norddeutscher Backsteingotik, die lange vor der bekanntlich 1789/90 stattfindenden Französischen Revolution errichtet worden war. Es ist historisch überliefert, dass die einschiffig gebaute Siechenhauskapelle eine Stiftung eines gutbetuchten Handwerkers, des Schwertfegers Klaus Schmidt war, die direkt an das letzte im Mittelalter gegründete Neuruppiner Hospital – das sogenannte Siechenhaus – angebaut worden war. Der vermögende Schwertfeger, der Waffenschmied Schmidt, dürfte sich nach der Vorstellung der damaligen Zeit mit seiner großzügigen Geldspende zum Bau der Kapelle das Seelenheil im Jenseits für sich und seine Familie gesichert haben, indem er kranken, gebrechlichen und brotlosen Menschen ein sicheres Obdach und eine routinierte Betreuung bot. Andererseits fanden die immer wieder wechselnden Hospitalbewohner für einige Jahre in der Kapelle einen geweihten Ort in ihrer unmittelbaren Umgebung vor, in dem sie ihrer frommen Christenpflicht nachkommen und die tägliche Messe besuchen konnten. Darüber hinaus bot sich ihnen in der Hospitalkapelle die Möglichkeit, dem generösen Stifter ihre tief empfundene Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, indem sie für das ewige Seelenheil des Schwertfegers Schmidt und dessen Familie beteten. Damit können wir die Errichtung der Siechenhauskapelle als ein lobendes Beispiel bürgerlichen Engagements in der märkischen Landstadt bezeichnen, das sich an der Schwelle vom ausgehenden Mittelalter zur neuen Reformationszeit ereignet hatte. Viele vergleichbare geistliche und soziale Stiftungen gingen damals auf diese soeben genannten Motive zurück.
Als zwei Jahre später das in der einstigen Papstraße stehende Siechenhaus mit seiner angegliederten Hospitalkapelle Sankt Lazarus vollendet waren, erteilte der aus einer niederdeutschen Adelsfamilie stammende Havelberger Bischof Busso von Alvensleben am 17. Mai 1493 dem gesamten Gebäudeensemble seinen bischöflichen Segen, worunter jetzt auch die Nutzung des kleinen Gotteshauses für alle Neuruppiner Bußfertigen gehörte, die dort vor Ort für ihr Seelenheil beten durften.
Die Siechenhauskapelle im Wandel der Zeiten
Im neuen Reglement des Jahres 1824 hieß es, dass neben unheilbar Kranken und gebrechlichen Alten nun auch arme alleinstehende Mütter mit ihren Kindern und in Not geratene Familien in der Siechenhauskapelle aufgenommen werden konnten.
Von 1699 bis 1702 feierte die Französisch Reformierte Gemeinde Neuruppins, in der auch später die Hugenottenfamilie Fontane Mitglied gewesen sein dürfte, in der Hospitalkapelle ihre Gottesdienste, weil ihre eigene Kirche im Verlauf eines verheerenden Flächenbrandes ein Raub des Flammenmeers geworden war. Glücklicherweise überlebte das kleine Kirchlein auch die nächste katastrophale Feuersbrunst von 1787, die, von Theodor Fontane beschrieben, als ‚Großer Stadtbrand’ in die Neuruppiner Annalen eingegangen ist, bei der fast die gesamte Innenstadt den lodernden Flammen zum Opfer gefallen war. Seit 1853 wurden in der Siechenhauskapelle zum Jahreswechsel öffentliche Silvestergottesdienste abgehalten. Die zugrunde liegende Idee geht auf den spitzfindigen Superintendenten der Evangelischen Kirche zurück, der damit saumselige Gläubige in seine Kirche locken wollte.
Von der Hospitalkapelle zum Altersheim
Seit seiner mittelalterlichen Gründung im 15. Jahrhundert lag das Siechenhaus samt seiner angeschlossenen Hospitalkapelle Sankt Lazarus ununterbrochen in den ruhigen Händen der ehrenwerten Neuruppiner Stadtväter. 1940 ging die städtische ‚Stiftung Siechenhaus’ in der ‚Hospitalstiftung St. Georg’ über, in deren Folge letztere das Siechenhaus zu einem anerkannten Altersheim umfunktionierte, in dem Frauen ab 55 Jahren und Männer ab 60 Jahren eine behütete Aufnahme gefunden haben.
Standesamt, Taufen, Hotel-Restaurant und Konzerte zum Jahreswechsel
Nach der vollendeten Restaurierung im Jahr 2004 dient die frühere Siechenhauskapelle nun als offizielle Außenstelle des Standesamts der Stadt Neuruppin. Seitdem haben sich viele hundert Paare das glückliche ‚Ja-Wort’ im gediegenen Ambiente des altehrwürdigen Kapellensaals gegeben. Neben der feierlichen Eheschließung können ebenso gut kirchliche Trauungen und freudige Kindstaufen in der andachtsvollen Kapelle vollzogen werden. Zudem bildet die einstige Sankt Lazarus-Kapelle heute den lebendigen Mittelpunkt eines feinen Hotel-Restaurant-Etablissements, das nach dem Ende der pastoralen Zeremonie – wenn es gewünscht wird – für das leibliche Wohl seiner illustren Gäste sorgt. Vom Sektfrühstück über das Kaffeetrinken bis hin zu einer kompletten Feier reicht das umfangreiche Programm des Restaurants. Zum Jahreswechsel finden dort auch kleine, stimmungsvolle Kammerkonzerte statt, wobei eine rechtzeitige Kartenreservierung sicherlich empfohlen wird.
Hinweis
Wer Interesse am Besuch weiterer spätmittelalterlicher Hospitalkapellen in Brandenburg hat, der wird fündig in:
- Gransee, Hospitalkapelle Sankt Spiritus, erbaut 1315
- Eberswalde, Barnimer Land, Hospitalkapelle Sankt Georg, über 700 Jahre alt
- Templin, Sankt Georgen-Hospital mit Sankt Georgen-Kapelle, vermutlich errichtet im späten 14. Jahrhundert; wahrscheinlich von Franziskanern unterhalten.
Link
Die offizielle Internetseite der Fontanestadt Neuruppin
Literatur
Müller, Hans: Dome ∙ Kirchen ∙ Klöster – Kunstwerke aus zehn Jahrhunderten, ein Tourist-Führer. Berlin/Leipzig 21986. S. 178. Zur Lazaruskapelle des alten Siechenhauses