Die Landschaft um Tartu herum ist geprägt durch Weite und vielfältige historische Landschaften. Es gibt viel zu entdecken. Ein Ausflug mit dem Bus bietet sich an.
Im September dieses Jahres war ich zu einer internationalen Tagung nach Estland eingeladen. Gastgeber war die Universität Tartu, die älteste Universität Estlands, die übrigens 1632 vom schwedischen König Gustav II. Adolf gegründet wurde. Tartu hieß früher Dorpat, zeitweise auch russisch Jurijew. Bei unserer Tagung ging es um bekannte Theologen, die im 19. Jahrhundert in Tartu und der Umgebung lebten und arbeiteten. Speziell um Adolf von Harnack. Die Tagung war ein voller Erfolg, spannend, anregend und interessant. Am letzten Tag der Tagung machten wir einen gemeinsamen Ausflug mit einem Kleinbus zu Landgütern der Umgebung.
Landhäuser mit viel Geschichte
Unser erster Halt war in Luua, früher Ludenhof. Das Landgut wurde erstmals 1519 erwähnt, damals besaß es die Familie von Luuden, daher kommt der Ortsname. Seit 1736 steht hier ein Barockschlösschen, das der Familie von Oettingen gehörte. Viele bekannte Wissenschaftler und Politiker, die in Estland wirkten, kamen aus dieser Familie. So der baltisch-lutherische Theologe Alexander von Oettingen, ein Vordenker der Sozialethik und Wirklicher kaiserlich russischer Staatsrat. Sein Bruder Georg von Oettingen war Arzt, Chirurg und Augenarzt, Rektor der Universität Dorpat und Stadthaupt, also Bürgermeister, von Dorpat. Ein weiterer Bruder, August von Oettingen, war ebenfalls in der Landespolitik tätig und Stadthaupt von Riga. Man kann hier erkennen, wie nah und familiär die öffentlichen Strukturen damals waren.
Heute beherbergt Luua eine Forstwirtschaftsschule. Ein großer Park und ein romantischer Wald mit Teichen und Alleen gehören dazu und bilden mit dem Schloss eines der schönsten Gutshäuserensembles in Estland.
Ebenfalls dazu gehört das Kavaliershaus, das in der unmittelbaren Umgebung des Herrenhauses liegt. Ein Kavaliershaus diente ursprünglich für die Unterbringung des Hofstaates, also Personal. Heute ist es in privater Hand. Ein Kanadier lebt hier und restauriert das im Stil eines Schweizer Sommerhauses gebaute Kleinod seit Jahren liebevoll. Dazu passend fährt er schnittige Oldtimer aus den 60er und 70er Jahren. Ebenso plante und pflegt er den Garten. Wir hatten Glück. Als wir Luua besichtigten, war der Mann gerade zu Hause und zeigte uns den Garten. Ein Traum!
Rudolf von Engelhardt, ein Verwandter der Oettingen Familie, war der Architekt des zauberhaften kleinen Anwesens, das auch Lebkuchen-Haus genannt wird.
Estland – das Land der Sagen, Geschichten und der Moderne
Estland ist ein sehr modernes, fortschrittliches Land. Die Digitalisierung ist hier weit fortgeschritten. In Tallinn wurde Skype erfunden. Zugleich gibt es viel Historisches zu entdecken. An den mannigfaltigen Verbindungen und Spuren der Deutsch-Balten, man kann sagen, dem Schmelztiegel der Kulturen, zeigt sich erneut, wie nah wir in Europa zusammenhängen. Dass Ländergrenzen eigentlich nicht wirklich viel bedeuten. Staatsgrenzen sind künstlich, historisch geschaffene Gebilde.
Nach unserem Besuch auf dem Landgut stiegen wir in den Bus und unser Fahrer fuhr uns zu einem versteckten Friedhof im Wald. Hier waren grün überwucherte alte Grabkreuze und Steine zu finden. Man fühlte sich bei unserer Exkursion wie bei einer Expedition. So entdeckten wir auch die Grabsteine von Alexander von Oettingen (d. Ä.) und von Harnacks erstem kirchenhistorischen Lehrer Moritz von Engelhardt.
Anschließend besuchten wir Visusti/Wissust, den Geburtsort Alexander von Oettingens. Hier steht auch noch sein Haus. Dies ist allerdings nicht mehr in so gutem Zustand. Immerhin renovieren es Privatleute seit Jahren.
Schließlich machten wir Mittagspause in Palamuse. Hier ist ein interessantes Schulmuseum zu besichtigen. Der bekannte und beliebte Autor Oskar Luts ging hier zur Schule und hat nach seinen Erinnerungen den estnischen Kinder-Klassiker Kevade, auf Deutsch Frühling geschrieben. Das 1914 erschienene Buch ist in zwölf Sprachen übersetzt. Der 1969 nach dem Buch gedrehte Film gehört zu den bekanntesten und beliebtesten estnischen Filmen. Jedes Kind kennt ihn.
Überhaupt ist diese Landschaft das Land von Kalevipoeg, des estnischen Nationalepos. Der Arzt und Schriftsteller Friedrich Reinhold Kreutzwald hat die Volkssagen und Märchen ab 1850 gesammelt und aufgeschrieben.
Wer es alles ganz genau wissen will, dem empfehle ich das nagelneue 2016 eröffnete Estnische Nationalmuseum. Auf dem Gelände einer ehemaligen sowjetischen Militärbasis errichtet, steht heute ein 335 Meter langer, futuristisch anmutender Bau aus Glas und Stahl, der leicht ansteigend wie ein soeben gelandetes futuristisches Raumschiff aussieht. Selbst sonstige Museumsmuffel sind begeistert.
Man kann nur hoffen, dass das kleine, wunderbare Land, so nah an der russischen Grenze seine seit Jahrhunderten ersehnte Freiheit behält.