Haben Sie sich schon mal überlegt, wo Ihre Urgroßeltern lebten?
Bestimmt gibt es einige Überlieferungen in der Familie?
Haben Sie mal daran gedacht, dorthin zu reisen?
Und vor Ort zu sehen, was vor Ihnen gewesen sein könnte?
Im Oktober 1888 zog mein Urgroßvater, er war damals siebenunddreißig Jahre, mit seiner Familie von Marburg nach Berlin. Er war nach allerlei Querelen an die Berliner Universität berufen worden. Das klingt toll. Dennoch können wir uns die damaligen häuslichen Verhältnisse nicht vorstellen. Zunächst galt es nun sich einzurichten mit fünf Kindern, von denen zwei noch getragen werden mussten, im dritten Stock eines Berliner Mietshauses, dessen Tür durch einen echten Berliner Portier-Cerberus gehütet wurde, und in dem die Kinder auf seinen Befehl nur die Hintertreppe hinaufgehen durften. So schreibt meine Großtante Agnes von Zahn in der Biografie über Ihren Vater, den Theologen und berühmten Wissenschaftsorganisator Adolf von Harnack.
Neuanfang in Berlin 1888
Agnes, 1884 geboren, war damals vier Jahre alt. Ich denke, sie konnte die Treppen schon allein gehen, aber noch kein Geschwister heruntertragen. Anna, meine Großmama, geboren 1881, war die Älteste. Sie konnte als Siebenjährige schon etwas mithelfen. Margarethe, 1882 geboren, ebenso. Da waren noch Karl, der zwei Jahre alt war, aber krank und Ernst, der im Juli 1888 geboren war.
Ja, sicherlich hatte meine Urgroßmutter Amalie ein Kindermädchen, vermutlich sogar zwei. Dazu eine Köchin und andere Hilfen. Sie waren, wie man heute sagt, privilegiert. Dennoch: ich möchte es mir nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Neugeborenen und drei Kleinkindern in eine unbekannte Großstadt umzuziehen. Es war der zweite Umzug innerhalb von zwei Jahren. 1886 war die junge Familie von Gießen nach Marburg gezogen. Eine junge Frau heute würde diesen Stress vermutlich nicht mitmachen, wenn sie die Möglichkeit hätte.
Sie waren in die damalige Hohenzollernstraße 22, ab 1933 Graf-Spee-Straße, heute Hiroshimastraße 22 in den Berliner Bezirk Tiergarten gezogen. Die Namensänderungen der Straße erzählen bereits etwas darüber, wie die Welt sich verändert hat. In der Hiroshimastraße sind heute einige große Botschaften und Landesvertretungen zu finden.
Straßen und Orte im Wandel der Zeiten
Kürzlich habe ich mir die Gegend und den ehemaligen Wohnort meiner Ahnen angesehen. Das Haus steht nicht mehr. An seiner Stelle wurde 1938 bis 1942 die Japanische Botschaft von Ludwig Moshamer unter der Aufsicht von Albert Speer gebaut, die heute wieder an dieser Stelle zu finden ist. Das Grundstück ist ein Eckgrundstück an der Tiergartenstraße. Und so konnten die Kinder, wenn sie denn einmal unten waren, gleich in den Tiergarten laufen. Denn: Der düstere Hof war kein Spielplatz; er gewann höchstens eigenen Reiz, wenn ein Leierkastenmann erschien, und aus dem Küchenfenster die sorgfältig eingewickelten Pfennige klappten oder wenn am Sonntagmorgen die Kurrendeknaben in ihren dürftigen schwarzen Schultermäntelchen dort ihre geistlichen Lieder sangen. So schreibt meine Großtante Agnes weiter. Ja, ich habe besonderes Glück, dass über meine Familie so viel überliefert und geschrieben wurde. Allerdings erfährt man dadurch eben auch das Leid, das ihnen widerfuhr. Zum Beispiel, dass nach zwei Jahren 1890 ein Kind, Margarethe, die ein Jahr jüngere Schwester meiner Großmama, starb. Sie wurde auf dem Alten St. Matthäuskirchhof begraben. Das Grab, das unser Familiengrab wurde, gibt es heute noch. Und wenn ich mir genau überlege: alle Häuser, alle drei Wohnorte der Familie meiner Urgroßeltern in Berlin existieren nicht mehr – einzig das Familiengrab auf dem St. Matthäus Kirchhof gibt es noch. So darf ich als Berlinerin, als Einwohnerin einer Stadt, in der sehr viel durch den Krieg zerstört wurde, sagen: Immerhin!
Nachdem Margarethe gestorben war, hielt es die Familie nicht länger in der Stadtwohnung im Tiergartenviertel und man zog in den damals äußersten Westen der Stadt nach Wilmersdorf, in die damalige Gravelottestraße, heute Fasanenstraße. Das war ein kleines Wagnis! Denn zunächst einmal kündigten die Hausangestellten, die sich weigerten ‚mit aufs Land‘ zu ziehen. Einsam lag die Baustätte, hinter der man die Abendsonne hinter den Kiefern des Grunewaldsees versinken sehen konnte. Ringsum breiteten sich Wiesen..
Aber das ist eine andere Geschichte.
Haben Sie nicht Lust, ebenfalls auf die Spuren Ihrer Familien zu gehen? Am besten man mietet sich dafür gemeinsam einen Bus. Denn solche Reisen können dauern. Man kann manches entdecken, was man vorher nicht wusste oder angenommen hatte und einiges über sich selber erfahren.