Berlin hat eine sehr vielfältige Theaterlandschaft zu bieten. Für jeden ist was dabei. Meine eher zufällig zustande gekommene Auswahl zeigt die Vielfalt des Theaterlebens der Hauptstadt, die jetzt zum Glück wieder möglich ist.
Am 25. November lese ich Thomas Bernhard in der Erlöserkirche in Lichtenberg. So sagte mir Hermann Beil vor einigen Monaten am Telefon. Dass das kurz vor dem 1. Advent sein wird, war mir damals nicht bewusst. Die öffentlichen Lesungen von Hermann Beil sind mir immer wichtig und fixe Termine in meinem Kalender. Beil ist der bekannteste Dramaturg im deutschsprachigen Theaterraum. Zudem ist er Regisseur, Autor, ein gefragter Redner und Meister in der Organisation von Veranstaltungen aller Art wie Geburtstage, Gedenkfeiern und Preisverleihungen. Und nicht zuletzt liest er seit vielen Jahren hochgelobt und bodenständig aus Werken der Weltliteratur. Ich kenne Hermann Beil aus dem Berliner Ensemble, wo ich mit ihm einige Jahre engagiert war. Sein Wissen und seine Erfahrungen als Theatermann sind unerschöpflich. Seine Lesungen sind immer etwas ganz Besonderes.
Was macht eigentlich ein Dramaturg?
In seinem Buch Theaternarren leben länger, das 2000 im Wiener Zsolnay Verlag erschienen ist, beantwortet Beil die Frage so: Jedenfalls ist der Dramaturg als Denkmaschine am Theater engagiert. Manchmal ist er auch eine Art Papierkorb für jene Arbeiten, die übrig bleiben, weil keiner sich dafür zuständig hält. Und so pendelt der Dramaturg täglich zwischen den Polen ‚Denkfabrik‘ und ‚Mädchen für alles und nichts‘. Ich finde, das ist eine hervorragende Definition dieses Berufes. Ja, wer diesen Spagat auf Dauer aushält, der ist tatsächlich ein Dramaturg.
Am vergangenen Freitag las Beil aus den autobiografischen Erzählungen des österreichischen Dichters Thomas Bernhard Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte, in einer eigens geschriebenen Fassung. Der Titel des Abends war Ich will in die entgegengesetzte Richtung. Bernhards autobiografische Schriften sind Schlüsselwerke für den Zugang zu seinem Leben und zu seiner Literatur. Musikalisch, empfindsam und doch entschieden immer in die entgegengesetzte Richtung gehen zu wollen und zu müssen, um seine Existenz zu retten. Dies spricht aus diesen Texten und ebenso musikalisch, empfindungsreich und klar las Beil anderthalb Stunden ohne Pause und ohne einen Versprecher, dass es einem Zauber und einem Sprach- und Denkwunder gleichkam. Die hohe Konzentration des Vorlesenden übertrug sich auf die Zuhörer und alle waren glücklich durch diese Lesung einen Zugang zu dem nicht so leicht zu erschließenden Stoff erhalten und geschenkt bekommen zu haben. Der Eintritt war frei. Zum Ausgang wurde um eine Spende gebeten. Die Lesung fand wegen der kalten Temperaturen im Gemeindesaal und nicht in der Evangelischen Erlöserkirche Berlin-Lichtenberg statt. Es war ein sehr faszinierender, kluger und leichter Abend, der zeigte, was allein eine Stimme vermag.
Ophelia’s in der Volksbühne, ganz anders
Am Samstagabend war dann ziemliches Kontrastprogramm angesagt. In der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz stand Ophelia’s Got Talent auf dem Spielplan. Ich hatte von verschiedenen Leuten davon gehört, dass diese Vorstellung was ganz anderes sei, aber auf jeden Fall tolles Theater. Tja, was soll ich dazu sagen? Und wo anfangen? In der bis auf den letzten Platz ausverkauften Volksbühne gab es ein Spektakel aus Zirkus, Artistik, Stunt- und Freakshow, Schmerz- und Sporttheater zu aktuellen Fragen der Zeit. Die Performancekünstlerin Florentina Holzinger setzte die Volksbühne quasi unter Wasser und zündete sie dann an. Alles natürlich im Rahmen und das Haus und alle Zuschauer haben unbeschadet überlebt. Eine weibliche Piratin à la Captain Hook führte das Publikum in den Abend ein. Hier war nichts geschönt, sondern alles direkt. In die Bühne war ein Schwimmbecken und drei Aquarien eingebaut, in denen die Spielerinnen, die perfekte Tänzerinnen, Artistinnen und Schwimmerinnen waren, mitunter abtauchten, auch gefesselt, bis sie sich selbst befreiten oder gerettet wurden. Nichts für schwache Nerven! Dann wieder schwammen sie wie Fische im großen Becken. Wasser und mythische, literarische Gestalten wie Melusine, Undine, die Meerjungfrau, Leda, Ophelia, Sirenen und die Loreley waren das Thema des Abends. Auch Blut, Trauma und Schmerz. Selbsterklärend wurde auch die Darstellung der Frau in Kunst, Kultur und Medien reflektiert. Zwölf durchweg nackte Spielerinnen, später dazu acht Mädchen, dominierten en passant die Szene. Die Spielerinnen, Tänzerinnen, Artistinnen spielten sich quasi frei. Und das vorwiegend junge Publikum ging begeistert mit. Fast drei Stunden ohne Pause. Gegen Ende senkte sich ein Hubschrauber durch den Schnürboden des Theaters herunter, den die Frauen enterten. Ich habe so ein an sämtliche Grenzen gehendes Spektakel noch nie gesehen. Nur Mut!
Der Kleist-Preis im Deutschen Theater
Nachdem ich dann ein bisschen geschlafen hatte, ging es am Sonntag morgen ins Deutsche Theater zur Verleihung des Kleist-Preises 2022. Diese ehrenvolle Veranstaltung war nun wiederum der Gegensatz zum Abend davor. Ruhig und gediegen, mit vielfältigen Bezügen kam sie daher.
Der Kleist-Preis ist ein deutscher Literaturpreis, der jährlich vergeben wird. Er wurde 1912 anlässlich des 101. Todestages von Heinrich von Kleist zum ersten Mal vergeben. Bertolt Brecht, Robert Musil, Anna Seghers, Thomas Brasch, Heiner Müller, Barbara Honigmann, Emine Sevgi Özdamar, Christoph Ransmayr und viele andere erhielten ihn bislang. Eigentlich ist der Kleist-Preis ein großes Fest. In diesem Jahr hatte jedenfalls der äußere Rahmen ein paar Anlaufschwierigkeiten nach der Corona-Pause. Am vergangenen Sonntag war die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky die Preisträgerin.
Anschließend gab es einen Sektempfang. Hier traf sich die Buchbranche. Ich wurde unvermittelt angesprochen, ob ich Michi Strausfeld sei. Die bin ich nicht. Durch die Corona Jahre hatte man sich aus den Augen verloren. Ich kam mit der Frau, die mich angesprochen hatte, ins Gespräch. Sie ist Literaturkritikerin und in der Jury für den Kleist-Preis im kommenden Jahr. Wir verabredeten uns für den November 2023.
Jetzt noch den Holländer?
So. Ich erhielt anschließend einen Tipp für den Abend. In der Komischen Oper ist Premiere des Fliegenden Holländers von Richard Wagner in der Inszenierung von Herbert Fritsch. Das wird bestimmt turbulent und unterhaltsam werden. Ich verschob diesen Opernabend auf ein anderes Datum im Dezember. Und feierte lieber den 1. Advent bei Kaffee und Plätzchen mit meiner Familie.
In Berlin findet jeder etwas im Theater. Berlin ist insofern nachhaltig, da man für eine unglaubliche Vielfalt an Theatern kurze Wege hat, nicht die Stadt wechseln muss. Drei große Opernhäuser, über dreißig Stadt- und Staatstheater und zwei große Privattheater, die Schaubühne und das Berliner Ensemble, bieten für jede Theaterleidenschaft etwas. Besonders im Dezember, wenn die Tage dunkel sind, sind Licht und Leuchten der Theater, die Begegnung mit anderen Menschen sehr nachhaltige Eindrücke.
Kommen Sie mit dem Bus nach Berlin und lassen Sie sich mitreißen, beeindrucken und überraschen.
2 Kommentare
Sehr geehrte Frau Frucht,
wie anschaulich Sie über die Berliner Theaterwelt schreiben, beeindruckt mich zutiefst.Sie verfassen gute, anschauliche und nachvollziehbare Texte, egal ob es über Theater – oder
Städtegeschichten sind. Lebendig schildern Sie Ihre Eindrücke. Weiter so,
mit Spannung und Neugierde warte ich auf Neues!!!
Mit freundlichen Grüßen,
Eva- Maria Bauer
Sehr geehrte Frau Bauer,
das freut mich sehr zu lesen. Vielen herzlichen Dank! Ja, ich versuche lebendig zu berichten und zu schreiben. Fundiert, und auch wenn das Wort vielleicht strapaziert ist: authentisch. Schön, wenn es so bei Ihnen ankommt. Das ermutigt!
Grüße aus Berlin,
Ihre Karin Frucht