Mitunter werden vergessene Orte, Lost Places, aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst und aufgeweckt. Simsalabim und es steht eine Seniorenresidenz mit Restaurant darauf. Eigentlich eine gute Sache. Aber wo bleiben die Erinnerungen?
Es gibt Gegenden in Berlin, die haben ihren eigenen Zauber. Die wasser-, wald und seenreiche Stadt hat einiges zu bieten. So auch in Grünau. Aus irgendwelchen Gründen ist dieser Stadtteil noch nicht „in“, noch nicht „gekommen“. Zeitvergessen liegt er im Südosten Berlins, an der Dahme, einem Seitenarm der Spree. Zwar besteht hier insofern eine hohe Lebensqualität, es ist ruhig, man kann im Sommer in zehn Minuten mit dem Fahrrad zum Baden fahren, im Wald spazieren gehen. Aber außer dem jetzt sehr gut bewirtschafteten und beliebten Café Liebig, dem Waldlokal Hanff‘s Ruh und dem regen Ortsverein Grünau ist hier an öffentlichem Leben einfach nicht viel los.
Gasthaus oder Gaststätte?
Ich bin in Berlin-Grünau aufgewachsen. Damals gab es hier eine Bibliothek, mehrere Geschäfte, einen Gemüseladen, einen Fleischer, einen Uhrmacher, einen Schreibwarenladen, mindestens drei Bäckerläden, wo die Leute nachmittags um drei nach frischen Brötchen anstanden, den Eck-Konsum, die Vitrine, eine Art Supermarkt, eine Eisdiele, mehrere Kneipen und Lokale, die Evangelische Kirche, das Gemeindehaus und im Sommer ein wunderbares Freilichtkino auf der Regattatribüne direkt am Wasser gelegen. Und es gab die Riviera sowie das Gesellschaftshaus Grünau. Riviera, wie das klang. Ich wusste lange nicht, was das ist, was das Wort bedeutet und woher der Name eigentlich kommt. Ich wusste allerdings, dass die Riviera in Grünau eine Disco ist und das Gesellschaftshaus ein Lokal ist, wir sagten zu Hause Gasthaus, meine Mutter bestand darauf. Mein Grünauer Schulfreudinnen sagten alle Gaststätte. Eigentlich jeder verwendete das Wort Gaststätte, kaum jemand sagte Restaurant oder Lokal. Das waren die feinen sprachlichen Unterschiede, die mir schon als Kind auffielen. Ich fragte mich, warum sagt meine Mutter es so und andere anders?
Disco in der Riviera in den Siebzigern
Was in einer Disco so los ist, wusste ich bald. Als ich ungefähr fünfzehn, sechzehn Jahre alt war, ging es los. Unsere ganze Klasse, also eigentlich alle oberen Schulklassen, trafen sich Mittwoch und Samstagabend in der Riviera zur Disco. Meine Großmutter wollte nicht, dass ich tanzen gehe, die Arme, sie war richtig unglücklich darüber. Sie hatte Sorge um mich, meinte, das sei was für Dienstmädchen, die es gar nicht mehr gab. Sie dachte, nun folge mein Untergang. Ich hatte meine Großmutter sehr gern, hier irrte sie, so hoffe ich. Meine Mutter hatte nichts dagegen. Und so ging ich einfach. Es war unkompliziert. Es kostete keinen Eintritt und Geld benötigte man höchstens für Getränke, Bier, Club-Cola oder Wasser, was Beträge um einer Mark waren. Und so verbrachten wir tolle Abende mit der Musik der Stones, T-Rex, Deep Purple – Smoke on the Water, Simon & Garfunkel, Stevie Wonder und anderen Hits aus der westlichen Welt, die die hiesigen Disk-Jockeys irgendwie auf ihre Tonbänder bekommen hatten. Es wurde geraucht, getanzt, zu zweit, selten alleine. Mädchen mussten warten, bis sie aufgefordert wurden. Das war so, aber irgendwie kein Problem, für mich jedenfalls nicht, und ab und an war Damenwahl, dann ging es anders herum. Man sagte: Tanzt du mit mir – Jungs sagten mitunter: Darf ich bitten. Wenn langsame Titel kamen, tanzte man auch eng. Da gab es Annäherungsversuche, Annäherungen, Zusammenrutschen, eng, noch enger, bis einer der Tanzpartner sagte: Wollen wir mal raus gehen? Dann ernüchterte oft die frische Luft oder es kam zu wilden Küssen.
Einen Freund, eine Liebe habe ich in der Riviera direkt nicht kennengelernt. Aber es waren tolle, bunte, ungezwungene, wilde Abende mit dem Gefühl von Freiheit.
Pompeij in Berlin. Genua in Grünau?
Nach dem Mauerfall verfiel die Riviera, die seit 1977 unter Denkmalsschutz stand, über dreißig Jahre. Eine Investorin hatte das Gebäudeensemble gekauft, ließ es allerdings verfallen. 2018 bis 2021 wurde ziemlich kahlschlagsaniert, das heißt, so gut wie alles neugebaut. Der historische Ballsaal wurde zum Glück erhalten. Farbschichten unter den Wänden sensibel hervorgeholt. Der historische Kronleuchter war in den Jahren des Leerstandes geklaut worden, eine Verkaufsanzeige war in Süddeutschland in einer Zeitung erschienen. Im Juli 2019 kam es im benachbarten Gesellschaftshaus zu einem Brand, was seltsam anmutete. In Berlin nennt man so etwas „heißer Abriss“. Flugs wurde hier eine Seniorenresidenz gebaut, die Baugenehmigung war bereits zuvor erteilt worden. Alles in höheren Preislagen. Klar, Qualität hat ihren Preis. Die Tänzer von damals könnten nun hier einziehen. Ob sie es wollen und können?
Das Restaurant Riviera im historischen Ballsaal bietet gehobene mediterrane Küche an. Ja, man könnte es ausprobieren. Ob man sich da wohlfühlt? Es kommt auf die Gesellschaft an. Es gibt auch einen günstigen Mittagstisch von 11.30 bis 14.30 Uhr. Das Essen sieht jedenfalls gut aus.
P.S. Als ich später im Westen durch eine Interrail-Reise an die italienische Riviera kam, wunderte ich mich, warum die Gegend dort nach einem Tanzgasthof in Berlin-Grünau heißt. Oder war es andersherum? In der DDR wurden derartige Relikte aus alten Zeiten nicht erklärt oder benannt. Die Geschichte sollte einfach nicht stattgefunden haben. Die um 1888 gebaute Rivera war noch da, wurde benutzt, aber die Wandbilder mit Motiven aus Italien waren bei der Renovierung 1957 übermalt worden. Genua hatte in Grünau nichts zu suchen. Man wollte keine unerreichbaren Sehnsüchte wecken. Ich denke, das war nicht zu vermeiden. Meine Erinnerungen an Berlin-Grünau sind jedenfalls sehr nachhaltig.
Es bietet sich an, mit einem Bus nach Grünau zu fahren. Anschließend kann man das umliegende Wald- und Seengebiet erkunden. Im Winter bietet das Strandbad Grünau eine komplette Winterwelt mit Eisbahn, Schlittschuhverleih, Glühwein und allem, was dazugehört an. Man kann also direkt am Ufer der Dahme, in Natur und Weite Eislaufen. Im Sommer ist die touristisch noch wenig erschlossene Umgebung schön und interessant. Man kann bis zum Campingplatz Kuhle Wampe mit der Fähre übersetzen. Hier wurde 1932 der berühmte Film Kuhle Wampe oder: wem gehört die Welt nach dem Drehbuch von Slatan Dudow und Bertolt Brecht gedreht. Hans Eisler hat die Musik komponiert. Es lohnt sich, in der Gegend ein Wochenende zu verbringen.