Für Mami
Berlins Wahrzeichen und Symbol der überwundenen Teilung schlechthin ist das Brandenburger Tor zwischen Mitte und Tiergarten. Es wurde 1788 bis 1791 von Carl Gotthard Langhans nach Motiven der Propyläen in Athen, dem Torbau zur Akropolis, als repräsentativer Abschluss der Straße Unter den Linden errichtet.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind mit meinen Eltern in unserem grauen VW Käfer durch das Brandenburger Tor gefahren bin. Wir fuhren von Berlin-Biesdorf, im Osten, wo wir wohnten, zu den Verwandten nach Berlin-Dahlem im Westen. Die Durchfahrt muss auch vor dem Mauerbau spektakulär gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass ich dabei so etwas ähnliches wie: „Die Mutter mit den Engeln!“ rief. Was es genau war und was ich da aufgeschnappt hatte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls hatte meine Mutter mich darauf aufmerksam gemacht, dass wir jetzt gleich durch’s Brandenburger Tor fahren würden. Ich vermute, sie sagte: „Gleich kommt das Brandenburger Tor! Oben drauf ist eine Frau mit Pferden – also eine Mutter mit Pferden“. Denn ich war noch klein, so an die drei Jahre – denn als ich vier Jahre alt war, stand schon die Mauer, seit dem 13. August 1961 – und niemand konnte mehr durch das Brandenburger Tor fahren. So gut wie niemand, aber das ist eine andere Geschichte. Mein Vater war Arzt und ihm war es noch eine Zeit lang erlaubt, die Grenze zu passieren. Aber das ist, wie gesagt, eine andere Geschichte.
Also: die Mutter mit den Pferden, so bezeichnete meine Mutter die Quadriga oben auf dem Brandenburger Tor. Die Mutter mit den Engeln, damit wird sie die Viktoria auf der Siegessäule gemeint haben, denn sie sieht so golden strahlend und wie ein Engel aus. Die kindliche Erinnerung ist als Erwachsene nicht mehr so deutlich. Man weiß nicht, was wirkliche Erinnerung und was erzählte Erinnerung ist. Dennoch glaube ich, 1960 habe ich beide Figuren, Engel und Mütter irgendwie als Einheit gesehen. Und es stimmt, auch die Frau, die die Pferde lenkt oben in der Quadriga, wird als Viktoria bezeichnet. Ich glaube mich zu erinnern, dass mein Vater das sagte, als wir durch das Brandenburger Tor fuhren. So bleiben beide Figuren, die in der Quadriga und die der Viktoria auf der Siegessäule, in ihrer strahlenden Kraft und Stärke, mit der sie die Geschicke von hoch oben lenken, für mich immer mit meiner Mutter verbunden.
Meine Mutter lebte von 1926 bis 2018 in Berlin und Leipzig.
Doch zurück zur Quadriga, die das Brandenburger Tor krönt. Der Begriff kommt aus dem lateinischen und bedeutet Viergespann. Sie waren in der Antike zweirädrige Streitwagen mit vier nebeneinander geführten Zugtieren. Der berühmte Berliner Bildhauer Johann Gottfried Schadow entwarf sie zusammen mit dem Kupferschmied Emanuel Jury und das Ensemble wurde 1793 auf das Tor gebracht und dort verankert. Sie sollte den Frieden nach Berlin bringen – laut Friedrich Wilhelm II.
Das Brandenburger Tor ist das einzig erhaltene von zuletzt achtzehn Berliner Stadttoren. Es ist ein sogenanntes frühklassizistisches Triumphtor und bildet den Abschluss des Boulevards Unter den Linden nach Westen hin, wo sich der große Tiergarten anschließt. Von der Formsprache her stellt es eine Verbindung zu römischen und griechischen Vorbildern her. Der Bau des Brandenburger Tors markierte die Einführung des Klassizismus als Architekturstil in Preußen. Als bekanntestes Berliner Wahrzeichen und als deutsches Nationalsymbol ist es mit vielen historischen Ereignissen des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden.
Zur Zeit des Kalten Krieges war hier der Schnittpunkt zwischen Ost und West. Von der Ostseite gelangte man nicht direkt an den Pariser Platz. Er war weitläufig abgesperrt. Zudem war außer dem Tor und den beiden Torhäusern nichts vom Gesamtensemble des Pariser Platzes übrig. Alles war eine ziemlich wüste Landschaft. Nur dieses seltsame Tor strahlte mit unbenennbar eigener Kraft aus der Ferne. Was war da? Man konnte nur von weitem auf das Tor schauen – und weit beziehungsweise nicht sehr weit – nach Westen.
Für mich ist der Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor der Ort in Berlin. Wenn ich von Süddeutschland, wo ich lange lebte, zurück nach Berlin kam, war oft hier mein erstes Ziel. Die Akademie der Künste ist ein offenes Haus, man kann zu Lesungen, Ausstellungen und anderen Veranstaltungen gehen. Manchmal sogar auf dem Dach, von wo aus man einen phänomenalen Ausblick hat. Spontan jedoch immer auf den Bänken am Pariser Platz die Leute beobachten. Dies ist barrierefrei und für alle kostenlos möglich.
Im Hotel Adlon, auch direkt am Pariser Platz, ist es natürlich etwas teurer. Aber in der Lobby sitzt man zwanglos und gemütlich bei Café, Tee und Kuchen und kleinen Berliner Spezialitäten. Hier feierten wir auch den zweiundneunzigsten Geburtstag meiner Mutter.