Der Bus 200 fährt vom Bahnhof Zoo über den Breitscheidplatz, die Nordischen Botschaften, den Tiergarten zur Philharmonie und dem Kulturforum mit der Neuen Nationalgalerie, der Staatsbibliothek und weiter bis zum Alexanderplatz. Wir halten an dem wundersam scheinbar fliegenden schiffgleichen Bauwerk von Hans Scharoun.
Die Berliner lieben die Philharmonie! Sie gehört, als eins der wenigen Wahrzeichen Berlins, allen Berlinern aus Ost und West. Ja, ich behaupte, die Stadt ist in gewisser Weise immer noch, und wieder neu – geteilt, im Denken, Alltag und Fühlen der Menschen. In der Musik nicht! Die Musik vereint alle Berlinerinnen und Berliner in der Philharmonie. Ob die hoch betagte Schriftstellerin Ursula Ziebarth aus Schöneberg, die so en passant in einem Nebensatz auf meine Frage hin, wo sie denn Richard von Weizsäcker, mit dem sie später befreundet war, kennengelernt habe, mit „irgendwann mal in der Philharmonie“ antwortete. Oder die zwölfjährige Lieselotte, die im Chor der Humboldt-Universität hier Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 8 aufführt, da sie auf einer Musikspezialschule ist – für alle ist die Philharmonie ein Ankerpunkt, ein besonderer Ort. Ein Höhepunkt in der Stadt.
Jedes Jahr zum Ende der Sommerferien, noch bevor in Berlin die Theater wieder öffnen, findet das Musikfest Berlin statt. Weltberühmte Orchester, Dirigenten und andere Stars des Musikbetriebs kommen nach Berlin. Zumeist in die Philharmonie. Eigentlich ist es für Musikbegeisterte ein „muss“ dahin zu gehen – denn wo bekommt man sonst Orchester wie die English Baroque Soloists, das Orchestre de Champs-Élysées, die Wiener Philharmoniker – Dirigenten wie Sir John Eliot Gardiner, Philippe Herreweghe – oder die Pianistin Martha Argerich zu hören!
Kartentricks
Und es gibt allermeistens fünfzehn Minuten vor Beginn noch eine – mitunter sehr günstige – Karte! Jemand kommt nicht, jemand kann nicht. Mein Trick: Gerade in den letzten Minuten vor Beginn entscheidet sich, ob man auch bei ausverkaufter Vorstellung doch noch eine Karte bekommt und sogar gut über den Preis verhandeln kann. Gerade, wenn alle Kartenanwärter, die schon seit Stunden mit dem Zettel: Suche 1 Karte vor dem Eingang stehen, gegangen sind, weil es ihnen zwecklos erscheint – tut sich oft etwas.
Ferien mitten in der Großstadt
Die Philharmonie Berlin ist eine Oase in der Großstadt. Sobald man drin ist – auf irgendeinem Platz sitzt, kann man durchatmen. Man sieht und hört von allen Plätzen ausgezeichnet. Dadurch, dass das Orchesterpodium quasi in die Mitte des Raumes gebaut ist – schweben die Zuschauerblöcke förmlich in Etagen um die Musiker und die Musik herum. Dazu kommen die großen Segel, die an der Decke schweben – den Schall und die Akustik befördern und zudem schön aussehen. Alles, das ganze Haus verleiht dem Zuhörer ein Gefühl von Freiheit und Ferien mitten in der Stadt.

Foto: © Karin Frucht / comkomm
Apropos Freiheit: Die Philharmonie wurde nach 37 Monaten Bauzeit vom 15. September 1960 der Grundsteinlegung, bis zum 15. Oktober 1963, der Eröffnung durch die Berliner Philharmoniker mit Herbert von Karajan und der 9. Sinfonie von Beethoven, erbaut. Der Architekt war der wirklich geniale Hans Scharoun. Genau an dieser Stelle, am Rande des Tiergartens war durch Albert Speer in seinem Plan der „Welthauptstadt Germania“ eine riesige Soldatenhalle zum Gedenken an die gefallenen Soldaten des 1. Weltkrieges geplant. Dazu kam es nun nicht. Die Wahl dieses Standortes war nun ein Zeichen gegen die Gigantomanie des Nationalsozialismus. Direkt neben dem Grundstück war zudem das Verwaltungsgebäude der nationalsozialistischen Aktion T4 – der „Aktion“ in der Tiergartenstraße 4, die die systematische Ermordung von über 70.000 Menschen mit Behinderung während der Nazizeit zwischen 1940 bis 1941 und darüber hinaus verantwortete.
Die Philharmonie ist seit 1963 das musikalische Herz Berlins. Zu der Zeit am Rand der Stadt, an der Grenze von Berlin-West gelegen – mussten die Musiker und alle Mitarbeiter täglich die Mauer, die Grenzposten, den Todesstreifen sehen. Es war auch Trauer in einem Haus, das nach außen soviel Zuversicht und Hoffnung ausstrahlte. Nach der Wiedervereinigung der Stadt ist das Haus ein Teil der neuen Mitte Berlins. Seine wechselvolle Geschichte macht vielleicht zugleich seine Aura aus. Eine Aura, die Widersprüche nicht scheut und zugleich auf wundersame Weise mit allen Mitteln der Kunst die Menschen im hier und jetzt verankert.

Foto: © Karin Frucht / comkomm
Bei der Grundsteinlegung im September 1960 sagte Karajan, dass die Philharmonie Ausgangspunkt für Harmonie und Frieden unter den Menschen sein soll. Dies wurde mit diesem weltweit einzigartigen Konzerthaus unbedingt erreicht. Jeden Abend kann man es spüren.
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