Buchstaben sind eine Grundlage unserer Kultur. Noch mehr, als uns vielleicht bewusst ist, erkennen wir das, wenn plötzlich Buchstaben fehlen oder viele Buchstaben auf einem Haufen, an einem Ort zu finden sind. Zum Beispiel in einem Buchstabenmuseum.
Als Kind liebte ich Leuchtreklame. In den sechziger Jahren in der DDR war davon nicht übermäßig viel zu sehen. Wenn wir mit dem Auto, wir hatten einen VW-Käfer aus den Zeiten vor dem Mauerbau, durch Berlin fuhren, machte meine Mutter mich auf die bunten Buchstaben aufmerksam. „Guck mal, Leuchtreklame!“ Bald machten wir ein Spiel daraus. Wer entdeckt wo welche bunte Schrift? Ich erinnere mich an ein rotes Eichhörnchen, das auf der Steglitzer Schlossstraße leuchtete und dabei sprang. Dort können wir nur vor 1961, also vor Errichtung der Berliner Mauer gewesen sein. Ich war drei Jahre jung. Ganz erstaunlich, was Kinder sich so merken.
Als ich später in den Westen gelangte, gab es Leuchtreklame und Buchstaben im Übermaß. Seit ungefähr zwanzig, fünfundzwanzig Jahren geht die Anzahl an Leuchtbuchstaben im Stadtbild zurück. Gedruckte Ladenschilder scheinen günstiger zu sein und einfach zu bekommen. Neon leuchtende Buchstaben erfordern aufwendige Handarbeit. Durch die Globalisierung des öffentlichen Raumes werden traditionelle Handwerksbetriebe verdrängt. Individualität nimmt ab. Denn dazu kommt die Standardisierung auch bei der Herstellung von Beschriftung. Deshalb verlieren individuelle, regionale und handwerklich hochwertige Beschriftungen an Bedeutung und verschwinden zunehmend aus dem Bewusstsein. Jedoch, wie sehr die Erinnerung an Buchstaben im Stadtbild, im Alltag im Gedächtnis eingeprägt sind, zeigt ein Besuch im Berliner Buchstabenmuseum.
Faszination Buchstaben – eine Reise durch das eigene Leben auf andere Art
Man muss ein bisschen suchen. Welches Museum befindet sich schon unter Berliner S-Bahn Brücken? Keines sonst. Das macht auch den besonderen Reiz des Ganzen aus. Im Sommer ist es hier herrlich kühl, im Winter sollte man sich warm anziehen, Mütze, Schal und Handschuhe nicht vergessen. Denn in den S-Bahn Brücken ist es kalt.
Betritt der Besucher dann dieses Reich aus Lettern und Farben, staunt er und sagt „Ah“ und „Oh“, denn jetzt wird klar, was in den vergangenen Jahrzehnten unbewusst im Gedächtnis gespeichert ist. Das „B“ der Berliner Bank, das „C“ der Commerzbank, das „K“ vom DDR-Konsum, das „M“ vom Metropol-Theater und der alten Berliner Markthalle und vieles mehr. Es ist eine Reise durch das eigene Leben auf andere Art. Man könnte eine Autobiografie nach Buchstaben schrieben. So hat es übrigens der Schriftsteller F.C. Delius getan. Seine Lebenserinnerungen Darling, it’s Delius sind kürzlich posthum bei Rowohlt Berlin erschienen. Er bearbeitet allerdings nur die Fülle des Buchstabens „A“. Von Abbey Road und Abendrot, zu Adorf, Adorno und Akte. Von Altkanzler, Abstand, Aufstand, Anstand zu Arroganz und Azurro. Genug Stoff für 320 Seiten.
Im Reich der leuchtenden Lettern – aber wo ist der richtige Platz?
Kinder lieben Buchstaben. Ich habe bunte Magnetbuchstaben in vielen Farben an meinem Kühlschrank. Schon Zweijährige faszinieren die bunten Lettern, die in ihren Augen was auch immer mit unserem Leben zu tun haben, und schieben sie hin und her, sortieren sie und vertiefen sich, nach welchem System auch immer. Dieser Faszination erlagen auch die Österreicherin Barbara Dechant und Anja Schulze. Sie fingen Anfang des Jahrtausends an, Typografie, Buchstaben aus dem öffentlichen Raum zu sammeln. 2005 gründeten sie den gemeinnützigen Verein Buchstabenmuseum e.V., um Buchstaben aus Berlin und dem Rest der Welt zu sammeln, zu restaurieren, zu bewahren und auszustellen. Die jeweiligen Geschichten, typografischen Eigenheiten und Herstellungsprozesse wurden ebenfalls gesammelt, aufgearbeitet und dokumentiert. 2008 wurde die Sammlung erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
Buchstabenbegeisterte aus aller Welt gehören seither zu den Besuchern. Der Platz nahe dem Berliner Ostbahnhof wurde bald zu klein und man suchte neue Räume. Der Platz in Berlin ist eng und so gut wie ausverkauft. Schließlich wurde man in den S-Bahnbögen im Hansaviertel fündig und die private Sammlung ist hier jeweils Donnerstag bis Sonntag für die Öffentlichkeit zugänglich.
Im Asyl für Buchstaben
Zugegeben, das klingt etwas sehr poetisch, aber das Buchstabenmuseum hat derzeit ca. 3000 Buchstaben gesammelt. Hunderte konnten so vor Verwitterung und Verschrottung gerettet werden. Gesammelt werden typografische Exponate unabhängig von Kultur, Sprache und Schriftsystem. Das Material reicht von Bugholz bis Neon und Edelstahl. Manche Schriftzüge zeugen vom leuchtenden Selbstbewusstsein großer Marken, andere verströmen Melancholie oder Spielfreude.
Es ist modern geworden, in seiner Wohnung zum Beispiel Buchstaben aus Metall oder Neon aufzustellen. Man kann in diesem Museum auch einige Leuchtbuchstaben kaufen. Und noch etwas: Vielleicht entdecken Sie irgendwo bemerkenswerte Buchstaben? Vielleicht finden Sie auf Ihrem Dachboden oder im Keller noch ein paar Buchstaben, dann rufen Sie im Buchstabenmuseum an und bringen sie mit dem Bus nach Berlin. So kommen sie zu Aufmerksamkeit und Wirkung. Museum bedeutet Nachhaltigkeit.
Im Anschluss an den Besuch im Buchstabenmuseum empfehle ich einen Besuch im Café Buchwald. Bei den feinen Torten oder dem traditionellen Baumkuchen kann man sich hervorragend aufwärmen und das Gesehene verarbeiten. Denn das Buchstabenmuseum inspiriert und macht glücklich.