Wer war schon mal in Stendal? Vielleicht kennen einige den ICE mit diesem Namen und andere den Namen des französischen Schriftstellers Stendhal? Aber wie sieht es in der alten Hansestadt Stendal aus und was gibt es da zu entdecken?
In dem Viertel, in dem ich in Berlin wohne, sind die Straßen nach Städten in Sachsen-Anhalt benannt. Es gibt die Havelberger Straße, die Salzwedler Straße, die Stendaler Straße. Ein Grund mehr für mich, einen Ausflug nach Stendal zu machen. Ich hatte es mir schon lange vorgenommen und nahm den ICE, der mit dem Ziel Amsterdam tatsächlich in Stendal hält. Von Berlin aus ist man in 50 Minuten da. Ins Stadtzentrum muss man allerdings ca. zwanzig Minuten laufen – und abends wieder zurück. Zwar gibt es auch in Stendal öffentliche Verkehrsmittel, allerdings ist die Taktung mit der Bahn ungünstig, sodass das Warten auf dem Bus am Bahnhof noch einmal so lange dauert wie die Fahrt von Berlin nach Stendal. Meine Empfehlung ist daher, sich zusammen mit Freunden oder der Familie einen Bus zu mieten und die alten prächtigen Hansestädte Stendal, Havelberg und Tangermünde gemeinsam zu erkunden. Das wäre zudem nachhaltiger, denn man sieht und erlebt mehr ohne weite Wegstrecken. Nun aber zu Stendal.
Stendal, Stadt der Backsteingotik
Ich mag es, Bedeutendes im Unbekannten zu entdecken. Der Stendaler Marktplatz inmitten der Altstadt wird durch das Ensemble aus Marienkirche, Rathaus und Roland bestimmt. Das gotische Rathaus mit seinen Staffel- und Schweifgiebeln ist ein Kleinod aus dem 14. Jahrhundert, das später natürlich mehrfach verändert wurde. Vor der Gerichtslaube des Rathauses, die heute das schöne Café Kaffeekult beherbergt, steht eine Kopie des Rolands von 1525.
In der Nähe befindet sich die zweitürmige Pfarrkirche St. Marien. Diese ist eine dreischiffige Hallenkirche von 1447, mit wertvollem Marienaltar und prachtvoll ziselierter astronomischer Uhr aus dem 15. Jahrhundert. In der Breiten Straße befindet sich heute die Fußgängerzone, die zum Bummeln einlädt.
Am Domplatz erhebt sich der Dom St. Nikolaus von 1467, ein klassisches Beispiel mittelalterlicher Backsteingotik. Gegenüber befindet sich das 1456 gegründete ehemalige Katharinenkloster. Dort ist jetzt das Altmärkische Museum zu finden. Zudem sind die Tangermünder Tor und das Uengliner Tor, eines der schönsten erhaltenen Backsteintore Norddeutschlands in Stendal zu besichtigen.
Ein Theater gibt es in Stendal auch. Das Theater der Altmark, offiziell Landestheater Sachsen-Anhalt Nord, hat die Sparten Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Musiktheater und Bürgerbühne. Im Schauspiel werden zeitgenössische interessante Stücke geboten. So zum Beispiel ein aktuelles Stück von Juli Zeh Corpus Delicti, das im Jahr 2057 spielt, zukünftige Ziele, Verbote und Werte hinterfragt.
Noch etwas Interessantes. Man kann sich im Theater, an der Kasse und an der Pforte, einen Audiowalk – also einen geführten Stadtrundgang mit Knopf im Ohr – zum Thema Stadtgeschichte der Hansestadt Stendal ausleihen. Diesen zweistündigen Rundgang hat die Bürgerbühne, also die Laienspielklubs des Theaters, unter dem Titel Spiel unter den Fassaden entwickelt. So wirkt Theater in die Stadt und über sie hinaus.
Johann Joachim Winckelmann. Die Karriere eines Unangepassten von Stendal nach Neapel
Jetzt zum eigentlichen Anlass meiner Reise. Johann Joachim Winckelmann. Er wurde 1717 als einziges Kind eines Schusters geboren, begründete die wissenschaftliche Archäologie und war sozusagen der erste Kunsthistoriker. Seine Werke und Schriften beeinflussten Lessing und Goethe und vermutlich den französischen Schriftsteller Marie-Henri Beyle, der sich das Pseudonym Stendhal zulegte.
Im Winckelmann-Museum kann man sich von seiner Lebensgeschichte ein Bild machen und tiefer einsteigen.
Ungewöhnlich für ein Kind armer Leute schaffte er es, bereits in die Lateinschule aufgenommen zu werden. Als Kurrendeschüler bekam er Kleidung, Nahrung und Lehrmittel frei, musste dafür zusammen mit den anderen Mitschülern durch die Straßen ziehen und bei Beerdigungen, Hochzeiten und anderen Anlässen singen. Das Wort Kurrende kommt vom lateinischen corradere und bedeutet betteln. Ja so war das vor Zeiten. Der Rektor der Schule hatte Winckelmanns Begabung früh erkannt und förderte ihn. Er konnte drei Jahre bei ihm wohnen, verwaltete die Schulbibliothek. 1734 wurde er Chorleiter, gab Gesangsunterricht und lernte Orgelspielen. 1735 ging Winckelmann nach Berlin an das Cöllnische Gymnasium, um Altgriechisch zu lernen und arbeitete als Hauslehrer. Es folgte Salzwedel, dann Halle mit dem Studium der Theologie, das er abbrach, dann Jena mit Medizin und Physik. Das alles begeisterte ihn nicht restlos, auch werden existenzielle Gründe vorgelegen haben. Heute würden wir sagen, Winckelmann war ein Studienabbrecher. Er ging zurück in die Altmark und wurde Konrektor in Seehausen, unterrichte Latein, Hebräisch und Geschichte. Allerdings gab es auch hier Ärger. Er lehrte die Sprachen mit Texten aus der Mythologie des klassischen Altertums, die er liebte. Dies war zu der Zeit nicht üblich, sondern man studierte alte Texte allein mit der Bibel. Winckelmann war seiner Zeit voraus.
Von Stendal nach Dresden
Es ist hier nicht der Ort, um Winckelmanns Leben nachzuzeichnen. Daher einige markante Punkte. Nöthnitz bei Dresden, 1748, hier war er Bibliothekar beim Grafen Heinrich von Bünau, der eine deutsche Geschichte verfasste. Winckelmann exzerpierte aus 40000 Bänden der Bibliothek des Grafen eigene Schriften von mehr als 1000 Blatt. Nach Dresden kam er 1754, wo er Zeichenunterricht bei dem Maler Adam Friedrich Oeser nahm. Ein Jahr später erschien sein Erstlingswerk Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, eine begeisterte Schilderung der Kunst und Kultur des alten Griechenlands. Winckelmann prägte das Diktum Edle Einfalt und stille Größe als Ideal der antiken Kunst im Gegensatz zum prunkvollen höfischen Barock. Seine Schriften wurden europaweit bekannt. Er bekam ein zweijähriges Stipendium zu einem Aufenthalt in Rom vom sächsischen Hof. Dafür musste er allerdings zum Katholizismus konvertieren.
Von Dresden nach Rom mit italienischer Lebensart
Rom, wo er 1755 ankam, war Winckelmanns Stadt. Hier zog ihn alles in seinen Bann. Die antiken Stätten, die Lebensart. Er tauchte sofort in die Künstlerszene ein, lebte mit verschiedenen Malern gemeinsam in einem Künstlerhaus. Es ist hier nicht der Platz, um alles genau zu beschreiben. Ich muss mich beschränken. 1758 zog er in den Stadtpalast des mächtigen Kardinals Alessandro Albani.
1758 und 1762 gelangte er als einer der ersten Deutschen nach Paestum, Pompeji und Herculaneum, studierte die Ausgrabungsstätten und veröffentlichte Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen. Diese lösten europaweit Begeisterung aus. Motive der antiken Fresken fanden sich bald in zahlreichen Schlössern. Es folgten weitere Veröffentlichungen.
Papst Clemens XIII. ernannte ihn 1763 als ersten Ausländer überhaupt zum Kommissar aller Altertümer Roms. Weiterhin wurde er Bearbeiter für die deutschsprachigen Schriften in der Vatikanischen Bibliothek und Mitglied verschiedener europäischer Akademien.
Winckelmann, der Schusterjunge aus Stendal, hatte es geschafft!
Er genoss alles, was die italienische Lebensart zu bieten hatte, das Klima, die Kultur, die Landschaft und die Menschen. Mein Getränck des Abends ist d’Orvieto, von dem die Bouteille, dergleichen die von Montepulciano sind. Mit einer solchen Bouteille reiche ich insgemein drei Abende.
Neapel, Pompeji, Herculaneum und weiter
1764 erschien Winckelmanns Hauptwerk Die Geschichte der Kunst des Alterthums, weitere bahnbrechende Veröffentlichungen folgten. 1767 bei seinem letzten Besuch in Neapel erlebte Winckelmann den Ausbruch des Vesuvs, ein einzigartiges Naturschauspiel. Man darf sagen, es scheint, als habe sich alle Mühe gelohnt. Winckelmann machte eine frühe europäische Karriere.
All diese kann man im Stendaler Winckelmann Museum studieren. Daran angeschlossen gibt es auch eine große Abteilung für Kinder- und Jugendliche, wo sie alles selbst erfahren und erleben können. Im Garten steht ein großes Trojanisches Pferd. Man kann hineingehen und bis in den Hals hochklettern. Auch Erwachsene.
Auf nach Stendal!
Lesenswert
Passend dazu das Buch „Ich bin recht wohl hier aufgenommen worden …“ Johann Joachim Winckelmanns Wirken auf Schloss Nöthnitz und in Dresden von Klaus-Werner Haupt. Es ist im Bertuch Verlag Weimar erschienen.