Wir wollen uns den monumentalen Gebäudekomplex der russischen Botschaft am Linden-Boulevard anschauen. Nicht nur dessen architektonische Bauform, sondern auch dessen städtebauliches Modell waren im 20. Jahrhundert für Berlin bedeutsam. In welchem Maß wurde das Vorbild der russischen Botschaft an der damaligen Stalinallee umgesetzt?
„Mütterchen Russland“ unterhält seit dem 18. Jahrhundert diplomatische Beziehungen mit Preußen, später mit Deutschland. Die russische Botschaft wurde in den frühen 1950er Jahren erbaut. Der Entwurf stammte von dem Meisterarchitekten Anatoli Jakowlewitsch Stryshewski. Noch heute steht die russische Botschaft an demselben Platz, an dem sich die erste diplomatische Vertretung, die Kaiserlich-Russische Gesandtschaft, aus dem 18. Jahrhundert befand. Sie wurde im Krieg komplett zerstört.
Das Lindenstatut regelte die architektonische Gestaltung am Linden-Boulevard
Das dreiteilige symmetrische Gebäude der russischen Botschaft nimmt eine bevorzugte Stellung am Linden-Boulevard ein. Dafür spricht, dass das kolossale Botschaftsgebäude mit seinen beiden langgestreckten Seitenflügeln deutlich von dem im Jahre 1909 beschlossenen „Lindenstatut“ abweicht. Das Lindenstatut war eine preußische Bauverordnung, die zum besseren Schutz der Straße Unter den Linden und deren angegliederten Plätzen erlassen wurde. Sie regelte die erlaubten Möglichkeiten der architektonischen Gestaltung für die dort errichteten Bauten. Großzügige Ausnahmeregeln für die russische Botschaft besagen, dass der von vier Sandsteinfiguren umgebene Turm des Gebäudes höher erbaut und der üblicherweise am Bürgersteig gelegene Entreebereich weiter nach hinten gerückt werden durften, als es die strenge Berliner Anordnung gestattete. Andere, heute klassische Baudenkmäler an der eleganten Prachtstraße Unter den Linden genossen diese zugestandenen Privilegien hingegen nicht.
Der Baustil der russischen Botschaft – maßgebend für die DDR-Architektur
Nach dem Krieg war die russische Botschaft das erste staatliche Bauobjekt, das im zerstörten Berlin wieder aufgebaut wurde. In den 1950er Jahren stand der wuchtige Gebäudekomplex ebenfalls deutlich Pate für den neu eingeschlagenen Kurs der DDR-Architektur. Der damals als „Nationale Tradition“ bezeichnete Stil orientierte sich, in Bezug auf die russische Botschaft gesehen, an der nationalen Bautradition des populären Berliner Klassizismus. Allerdings wurde dieser neoklassizistische Baustil an der russischen Botschaft in einer schematisierten und monumentalisierten Form ausgeführt. Demzufolge wurde die russische Botschaft wegweisend für das neue Stilkonglomerat aus sozialistischem Klassizismus und spätkaiserzeitlicher Schinkelschule der in den 1950er Jahren mit massiven Türmen, Säulen und Palästen errichteten Stalinallee. Nach Stalins Tod, 1953, wurde die mit bis zu 145 Quadratmetern großen Wohnungen versehene Stalinallee in Karl-Marx-Allee umbenannt.
Offensichtlich liegen die tieferen Wurzeln der heutigen Karl-Marx-Allee in punkto der architektonischen Ausführung bei dem damaligen Botschaftsneubau der russischen Botschaft Unter den Linden.
Die russische Botschaft – ein Stadtquartier en miniature
Der ausgedehnte Gebäudekomplex der russischen Botschaft gleicht einem ganzen Stadtquartier en miniature. Auf dem weitläufigen Botschaftsareal gibt es eine eigene Schule, ein Schwimmbad, ein Restaurant, ein Kino und extra Appartements für die zahlreichen Attachés und deren große und kleine Familienangehörigen. Sie leben in den zur Glinka- und Behrenstraße hinzugefügten Wohnquartieren.
In dem blockartig ausgeführten Mittelbau der russischen Botschaft befindet sich das mit opulentem Blattgold verzierte Hauptportal, das von einem augenfälligen Wappenfries bekrönt wird. Hinter dem massiven Paradeeingang liegt das mit reichem Marmor versehene Vestibül, von dem aus ein breiter Treppenaufgang in die oberen Etagen führt. Über die mit hochwertigen Derbent-Teppichen bedeckte Treppe erreichen die staunenden Besucher einen für mehrere hundert Gäste konzipierten Konzertsaal.
Außerdem gibt es drei grandiose Säle, aus deren hellen großen Fenstern es möglich ist, auf die alten hübschen Linden des gleichnamigen Boulevards zu schauen.
Zu den aparten Festräumen gehört der knapp 20 Meter hohe und mit herrlichen Marmorsäulen dekorierte Kuppelsaal. Rechter Hand befindet sich der edle Wappensaal. Auf der linken Seite liegt der stilvolle Spiegelsaal der russischen Botschaft.
Die Russische Föderation als Rechtsnachfolger der Sowjet-Botschaft am Linden-Boulevard
Nach dem plötzlichen Zusammenbruch der einstigen Sowjetunion übernahm die neu konstituierte Russische Föderation als Rechtsnachfolger auch deren sämtliche Liegenschaften im Inn- und Ausland. Folglich gelangte auch die prunkvolle Botschaft der früheren UdSSR am Linden-Boulevard in die Hände der neuen Moskowiter Regierung. Aus diesem Grund fand am Ende der 1990er Jahre eine tiefgreifende Generalrenovierung der russischen Botschaft statt. Im Zuge dessen wurden nicht nur eine leistungsstarke Heizungsanlage in den gesamten Gebäudekomplex eingebaut, sondern es entstand auch ein rückwärtiger Seitentrakt für die neue, modern möblierte Konsularabteilung, die aufgrund ihrer verbesserten technischen Ausstattung jetzt auf einem hohen Niveau arbeitet.
Im Vorgarten der russischen Botschaft – Lenins Kopf und Puschkins-Linde
Im begrünten Vorgarten unmittelbar vor dem imposanten Hauptgebäude der früheren Sowjetischen Botschaft befand sich in den Zeiten der DDR eine weiße überlebensgroße Leninbüste, die nach der Wendezeit ihren exquisiten Standort verlassen musste. Im Jahre 1997 hatten sich die russischen Behörden für einen kleinen Ortswechsel der prägnanten Skulptur entschieden. Danach wurde sie aus dem direkt am Linden-Boulevard gelegenen Garten in einen versteckten und für die Öffentlichkeit nicht einsehbaren Innenhof der Botschaft gebracht, in dem sie noch heute verweilt.
Allerdings steht in dem straßenseitigen Botschaftsgarten über die tiefgreifenden Wechsel der gesellschaftlichen und politischen Epochen hinweg, all den Stürmen der Zeiten zum Trotz, noch immer die kräftige Puschkin-Linde, deren schöner Name an den unsterblichen russischen Nationaldichter Alexander Sergejewitsch Puschkin erinnert.
Weil die russische Botschaft in Berlin zu den größten russischen Botschaften in der Welt gehört, sollten unternehmungslustige Flaneure und Passanten auf dem nimmer müden Linden-Boulevard jene auch einmal gesehen haben.
Hinweis
Adresse: Botschaft der Russischen Föderation, Unter den Linden 63-65, 10117 Berlin-Mitte
Telefon: +49 30 229 11 29 und -229 11 10
Besuchszeiten: Mo-Fr 08:30 bis 13:00 Uhr & 14:30 bis 18:00 Uhr
Wie fast alle diplomatischen Vertretungen verlangt auch die russische Botschaft in Berlin, dass Sie vor dem Besuch der russischen Botschaft einen Termin vereinbaren.
Anfahrt: Busse 100 & N5
U-Bahn U5 + S-Bahnen S1, S2, S25 & S26, gemeinsame Haltestelle: Brandenburger Tor
Lesenswert
Büttner, Horst; u.a.: Bau- und Kunstdenkmale Berlin I, Berlin 1984