Heute ist das Areal in der Berliner Turmstraße 21 noch gut als Krankenhaus erkennbar, auch wenn es seit 2001 gar keines mehr ist. Zwar ist ihm das Schicksal anderer ehemaliger Krankenhäuser erspart geblieben, hier wurden keine Eigentumswohnungen errichtet, sondern die meisten Gebäude dienen hier nach wie vor der Gesundheit und Sozialem. Dennoch weht hier der Hauch eines Lost Place.
Bei mir nebenan ganz in der Nähe ist ein „schlafendes“ Krankenhausgelände zu finden. Bei meiner täglichen Runde mit dem Fahrrad durch Berlin-Moabit nehme ich oft die Abkürzung durch diesen Ort. Im Frühjahr und Sommer ist hier eine besondere Flora zu finden, zum Beispiel Rhododendren-Hecken in allen Farben von Weiß über Lila bis Fuchsia. Diese sind so zahlreich, dass man durchaus mal eine Blüte abschneiden und mit nach Hause nehmen kann.
Oder ich gebe sie einer Dame, die im Rollstuhl sitzend vor einer Tür wartet, um ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen. Hier sind nämlich heute Pflegeheime, verschiedene soziale Einrichtungen und ein Hospiz untergebracht. Von 1871 bis 2001, also einhundertdreißig Jahre, war hier ein wichtiges Berliner Krankenhaus.
Kampf gegen die Pocken und ein Spitzen-Krankenhaus in Berlin
Angefangen hatte es 1871 nach einer Pockenepidemie. Man benötigte dringend Platz, um die Kranken unterzubringen, die anderen Lazarette zu entlasten. Die Anwohner protestierten, sie hatten Sorge, sich anzustecken, dennoch wurden hier Baracken mit dreißig Betten aufgestellt. Ein Verwaltungshaus, die Koch- und Waschküche, ein Maschinenhaus, Portierhaus und ein Leichenhaus kamen dazu. Das Krankenhaus wuchs schnell, 1886 hatte es 780 Betten. Solide Backsteinbauten ersetzten bis 1896 die Holzbaracken. Forschungseinrichtungen wurden geschaffen, ein Labor wurde aufgebaut.
Der angesehene Arzt und Mikrobiologe Robert Koch arbeitete dort in den 1880er Jahren. Auch der ebenfalls bekannte Arzt Paul Ehrlich forschte hier zur Bekämpfung der Tuberkulose. 1890 wurde eine chirurgische Abteilung eingerichtet und 1896 ein massives Operationshaus gebaut. Die Qualität der medizinischen Arbeit war so hoch, dass das Krankenhaus Moabit 1920 als einziges städtisches Krankenhaus Berlins zum Universitätsklinikum benannt und anerkannt wurde.
1922 wurden zwei Ärzte des Krankenhauses, Georg Klemperer und Moritz Borchardt, nach Moskau gerufen, um eine Kugel aus Lenins Hals zu entfernen, die ihn bei einem Attentat getroffen hatte. Bei der Gelegenheit ließen sich einige andere führende Mitglieder der sowjetischen Regierung untersuchen.
Mit all dem war es vorbei, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Am Morgen des 31. April 1933, dem Tag des deutschlandweiten Boykotts gegen jüdische Geschäfte und Einrichtungen, fuhren Lastwagen der SA auf das Gelände des Krankenhauses Moabit, um Ärzte zu verhaften, die Juden waren. Sie wurden in das SA-Gefängnis in der General-Pape-Straße gebracht, heute ist dieser Ort ein Gedenkort. Dass einige Ärzte mitten in einer Operation waren, war kein Hindernis. Des Weiteren wurden mehrere Ärzte und andere Angestellte, die links eingestellt waren, gekündigt. Durch diese Entlassungswelle wurde das Krankenhaus enorm geschädigt. Zwei Drittel der Ärzte mussten gehen. Dafür wurden politisch angepasste Ärzte eingestellt, die allerdings längst nicht das Niveau und das Können ihrer Vorgänger hatten. Die Sterblichkeitsrate unter den Kranken stieg. Dagegen half auch nicht die offizielle Umbenennung in Robert-Koch-Krankenhaus.
Wozu ein Krankenhaus gut sein kann. Hier wurde Geschichte geschrieben
Doch es gab auch Widerstand. Nach Kriegsbeginn 1939 gründeten sich zwei Widerstandsgruppen. Zum einen die Widerstandsgruppe Europäische Union der Ärzte Georg Großcurth und Robert Havemann. Zum anderen trafen sich im Schutz des Krankenhauses Nazigegner, um sich zu besprechen, auszutauschen und Hilfe zu organisieren. Hier wurden „Illegale“, politisch Verfolgte, Deserteure und Juden versteckt. Es wurden Schlafplätze, Essen, falsche Papiere und die Flucht ins Ausland organisiert. Unter den Patienten waren Politiker des nationalsozialistischen Systems, wie zum Beispiel Rudolf Hess, Hitlers Stellvertreter, und andere wichtige Leute, wie einige SS-Führer. Groscurth, seit 1939 Oberarzt und seit Kriegsbeginn Chefarzt des Krankenhauses, hatte 1933 miterlebt, wie seine jüdischen Kollegen brutal entlassen und verhaftet worden waren. Er entschloss sich zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht. Konnte von geplanten Kriegsaktionen, dem Überfall auf die Sowjetunion und Plänen für weitere Konzentrationslager erfahren und gab diese Informationen weiter.
Von der anderen Gruppe wurden Kontakte zu französischen und russischen Zwangsarbeitern und deren Widerstand organisiert. Soldaten wurden als wehrunfähig erklärt. Sendegeräte, Verbandsmaterial und Medikamente wurden geschmuggelt. Doch beide Gruppen flogen auf. Die Katastrophe blieb nicht aus, sondern geschah. Im September 1943 wurden alle verraten und verhaftet. Es folgten Folter, Prozesse und Todesurteile gegen Großcurth und viele andere.
Man kann sagen, hier wurde Geschichte geschrieben. Und es geht weiter.
Die Not der Welt kommt nach Moabit
1943 wurde das Krankenhaus durch Bombenangriffe schwer zerstört. Der Wiederaufbau dauerte sehr lange. Erst 1977 war er nahezu beendet. Nach dem Mauerfall und der Zusammenlegung aller Berliner Krankenhäuser sollte 1985 dieses in Moabit geschlossen werden. Wieder regte sich großer Widerstand, der vorübergehend erfolgreich war. 2001 wurde das hervorragende Berliner Krankenhaus Moabit per Senatsbeschluss von 1999 tatsächlich geschlossen. Was bleibt, sind die Gedenktafeln. Die natürlich allein nicht genug erzählen.
Heute befinden sich auf dem Gelände das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin (LAGeSo), einige Arztpraxen, Pflegeheime, verschiedene soziale Dienste und anderes. Das ganze Ensemble wirkt trotzdem seltsam verlassen und unbehaust. Es ist von der Dimension für Größeres angelegt.
Im Sommer 2015 kam das Gelände des ehemaligen Krankenhauses erneut in große Schlagzeilen. Tausende Menschen, die vor den Kriegen in Syrien und Afghanistan geflohen waren, gelangten über die Balkanroute nach Moabit. Sie kamen hier her zur Erstversorgung, zur Registrierung und Ankunft. Das LAGeSo war der Aufgabe in keiner Weise gewachsen. Tausende Menschen, Familien mit kleinen Kindern, warteten, schliefen und lebten über Wochen und Monate auf dem Gelände. Sie kampierten vor dem Hochhaus des LAGeSo. Es war das komplette Chaos. Es gab zuwenig Wasser und keine Toiletten. Die private Bürgerinitiative Moabit hilft, die von Diana Hennigs 2013 gegründet worden war, schaffte als eine der ersten Struktur und organisierte Hilfe der Bevölkerung Berlins. Es wurden Wohnungen, Notunterkünfte, Hostelzimmer, kostenlose Taxifahrten bereitgestellt. Die Berliner waren sehr hilfsbereit, sie spendeten über Monate Kleidung, Lebensmittel und freiwillige Arbeitsstunden an einer Stelle, wo man leider sagen muss, dass der Staat und der Senat von Berlin versagt hatten.
In den folgenden Monaten kamen professionelle Hilfsorganisationen dazu, die Zelte aufbauten, Ärzte, Verpflegung und Weiteres organisierten. Warum dauerte das so lange – fragt man sich bis heute.
Wenn ich mit dem Fahrrad heute durch das Gelände des Krankenhauses Moabit fahre, fühlt es sich wie in einem Dornröschenschlaf an. Das kann zwar falsch sein, aber dazu passt, dass das Institut für Gerichtsmedizin der Charité hier beheimatet ist. Professor Michael Tsokos ist hier Chefarzt. Er schrieb zahlreiche Krimis und Thriller. Moabit lebt!