Meißen gilt als die Wiege Sachsens. Hier gründeten die deutschen Kaiser auf ihrem Weg nach Osten die erste Siedlung auf slawischem Gebiet. Weltweit bekannt ist allerdings weniger die über tausendjährige Geschichte der Stadt, sondern das Meißner Porzellan, die älteste Porzellanmanufaktur Europas. Meine Familie mütterlicherseits kommt aus Meißen an der Elbe. Hier liegt sozusagen meine Wiege. Eigentlich lebte dieser Teil der Familie seit Generationen in der Gegend. Bis eine junge Frau in der Mitte des letzten Jahrhunderts in den Westen ging.
Meine Urgroßeltern mütterlicherseits, Rudolph Franz und Emma Johanna Bier, hatten ein Lebensmittelgeschäft in Meißen. Sie führten Colonialwaren, Spirituosen, Cigarren. So ist es auf dem mir erhaltenen Foto zu lesen. Zudem hatten sie eine Kaffee-Groß-Rösterei mit elektrischem Betriebe sowie eine Kollektion der Königlich-Sächsischen Landeslotterie. So ist es ebenfalls auf dem alten Foto zu lesen.
Meine Ururgroßeltern Friedrich Wilhelm und Amalie Christiane Bier, geborene Goltzsch, führten dies Geschäft ungefähr ab 1830, allerdings als Seilergeschäft. Ein Foto des Geschäftshauses und ein Ölbild von 1924 sind erhalten. Das Ölbild gehört meiner Tante Christine. Sie erbte es von ihrem Vater, dem Kaufmann Franz Rudolf Bier, der das elterliche Geschäft seit 1930 führte. Meißner Porzellan hatten sie natürlich auch.
Andere Zeiten, andere Lebensweisen
Nun kann man ja denken, diese Leute waren wohlhabend und es ging ihnen gut. Jedenfalls hatten sie immer genug zum Essen. Es wird aber von meiner Mutter und ihrem Bruder, die ebenfalls in Meißen geboren sind, erzählt, dass es bei ihren Großeltern zum Abendessen für jedes Kind immer nur ein halbes Ei und ein halbes Wiener Würstchen gab. Man war einfach sparsam. Und das war normal. Und nachhaltig, wie wir es heute nennen, war vieles auch. Kleidung wurde weitergegeben, umgearbeitet, bevor man etwas Neues kaufte. Das war auch noch in meiner Kindheit in den sechziger Jahren so. Ich bekam einen Wintermantel aus einem abgetragenen Mantel meiner Großmutter genäht. Das Futter war aus Schottenstoff, die Ärmel waren zum Umkrempeln, es blinkte Farbiges hervor und vorn hatte er Goldknöpfe. So viel Stoff war auch noch an einem alten Mantel gut erhalten, dass er für einen Kindermantel reichte. Haben Sie auch solche Erinnerungen? Vielleicht wäre mir damals ein Mantel oder Anorak von der Stange, den die meisten Kinder trugen, auch recht gewesen. Kinder sind gern wie alle. Aber ich kann mich bis heute an diesen Mantel erinnern und mein Sinn für Individualität und das Besondere wurde in der Zeit geprägt. Hier trifft sich Nachhaltigkeit mit Individualität. Heute nennt man das Upcycling.
Meine Großmutter erzählte anderseits, dass sie als Kind darüber erschrak, als sie Anfang des 20. Jahrhunderts in die Volksschule kam, dass dort viele Kinder waren, die keine Schuhe hatten und sommers und winters in kaputten Strümpfen, auch barfuß in die Schule kamen.
Meißen im Juni 1953. Zwischen Schule, FDJ und Junger Gemeinde
Doch zurück zu meiner Tante Christine und ihrer Familie. 1936 geboren wuchs sie in der Zeit des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges auf. Das prägt sie lebenslang. Von Meißen aus sah sie den rot-brennenden Himmel über Dresden bei der Zerstörung im Februar 1945, auch Tote und Verwundete. In ihrer Familie fand sie Halt, Geborgenheit und Freiheit. Der intelligenten jungen Frau fielen alle Widersprüche auf und sie hatte in der chaotischen Nachkriegszeit manche Freiräume. Sie war immer eine wissbegierige, sehr gute Schülerin. Christine war nicht in der FDJ, der stattlichen Jugendorganisation der DDR.
Im Frühjahr 1953 gab es verstärkt Bestrebungen an den Schulen, dass alle Schülerinnen und Schüler in die FDJ, die Freie Deutsche Jugend, eintreten sollten. Die staatlichen Stellen wollten 100 Prozent erreichen. Auf diejenigen, die nicht Mitglied werden wollten, wurde starker Druck ausgeübt. Es gab Appelle an die Solidarität: Einzelne sollten doch bitte nicht das gute Gesamtergebnis „verderben“. Christine wollte nicht und so erst recht nicht. Und hatte dabei ein gutes Gefühl. Sie entwickelte dabei eine innere Charakterstärke, auf die sie stolz war. Nicht unbedingt, dass sie es politisch überblickte, einfach auch deshalb, weil sie unter Druck gesetzt wurde und sich sagte: Ich beuge mich nicht.
Man muss ja dazu sagen, die Zeit des Nationalsozialismus war noch keine zehn Jahre her. Eine Zeit, die unter anderen damit angefangen hatte, dass man Kinder und Jugendliche in Organisationen zwang. In die Pimpfe und das Jungvolk. Nun sollte wieder losgehen. Diesmal sollten alle in die Pionierorganisation und FDJ.
Zurück zu Christine. Sie war damals in der Jungen Gemeinde der evangelischen Kirche. Hier wurde viel gelesen, Bibeltexte und schöngeistige Literatur. Es wurde gesungen. Manche spielten im Posaunenchor und abends kletterte man zusammen auf den Kirchturm. Hier wurde niemand zu etwas gezwungen, jede und jeder wurde genommen, wie sie und er ist. Das ergab ein Heimatgefühl und ein sich zu Hause und angenommen fühlen.
Vor 70 Jahren: Ein Schulverbot und eine Rede in der Aula. Auch ein Staat kann irren
Kurz vor dem 17. Juni kam ein Lehrer zu den Eltern der Schüler, die nicht in der FDJ waren und teilte ihnen mit, die Jugendlichen sollten nicht mehr in die Schule kommen. Sie wurden von der Schule ausgeschlossen, kurz vor dem Abitur. So erging es auch meiner Tante Christine.
Wie reagierten ihre Eltern? Sie unterstützten ihre Tochter. Sie fanden es zwar bedauerlich, dass Christine nicht mehr in die Schule gehen konnte, hielten aber zu ihrem Kind und fanden es in Ordnung, dass sie nicht nachgegeben hatte. Sie bestärkten ihre Tochter im Vertreten der eigenen Meinung. Christine hielt wenige Tage später eine Rede in der Aula der Schule, in der es darum ging, dass die Junge Gemeinde keine Organisation war, die Mitgliedsbücher hatte, das wurde ihr nämlich vorgeworfen und ebenso, dass sie mit dem Westen konspirierten und von dort finanziert wären. Das war alles Unsinn und dies sagte Christine in der Aula.
Sie erinnert sich: Ich weiß noch, dass ich auf dem Pult stand und Nasenbluten bekam. Ich hatte ein rotes Kleid von meiner Tante aus einem alten Stoff. Es war ja nach dem Krieg. Da wurden die Kleider der Tanten aufgetragen. Und ich dachte: Gut, dass ich keine weiße Bluse anhabe.
Ihr Vater erinnerte sich Jahre später noch genauer, als Christine und er sich Jahrzehnte später über die Situation unterhielten. Er erzählte, dass sie am Schluss ihrer Rede gesagt hatte: Auch ein Staat kann irren.
Für diesen Satz bekam Christine in der Kleinstadt Meißen eine Menge Applaus. Wildfremde Leute sprachen sie auf der Straße an und lobten sie: „Bravo, bravo!“ Auch den Eltern wurde zu dieser standhaften Tochter gratuliert.
Nach einigen Tagen liberalisierte sich alles. Nach dem Volksaufstand des 17. Juni merkte der Staat, dass er überzogen hatte. Regelungen wurden gelockert und entschärft. Christine und alle anderen konnten wieder zur Schule gehen. So als sei nichts gewesen.
Der Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 jährt sich in diesem Jahr übrigens zum 70. Mal.
Ost-West-Konflikte in der Kleinstadt Meißen und kreative Lösungen
Die Junge Gemeinde war plötzlich auch nicht mehr brisant. Christine machte im Sommer 1954 Abitur. Nun bekam sie allerdings keinen Studienplatz, da ihr Vater Kaufmann war, und er wurde als „bürgerlich“ registriert. Arbeiter- und Bauernkinder wurden vorrangig an die Universitäten geschickt. Christine wurde gesagt, dass sie in einen Betrieb gehen sollte und sich dann in von dort zum Studium delegieren lassen solle. Sie hätte das auch gemacht. Aber ihre Eltern sahen deutlich weiter, nämlich, dass Christine nach West-Berlin zum Studium gehen solle. Das tat sie. Sie musste dann noch ein Jahr in die Schule gehen und das sogenannte West-Abitur machen.
Hier erfuhr sie die andere Seite des Kalten Krieges. Den Schülern aus der DDR wurde versucht einzutrichtern, dass sie berufen seien, den Osten anzuführen, wenn wir diese Gebiete zurück erobert haben. Das war ebenfalls schrecklich schlimm und verwirrend. Anderseits war freies Reisen bis 1961 noch möglich. Christine studierte Psychologie an der Freien Universität Berlin, wurde Psychologin und bekleidete später eine Professur an der Technischen Universität Berlin bis zu ihrer Pensionierung. Sie mischte sich weiter ein. Sie war in der Friedensbewegung aktiv, ist Mitglied in der Liga für Menschenrechte und gründete 1994 mit einer Freundin und Kollegin zusammen die Stiftung Zurückgeben, die explizit jüdische Frauen in Kunst und Wissenschaft fördert. Damit ist diese Stiftung die einzige in Deutschland. Die Grundidee der Stiftung ist, dass vererbter Besitz in heutigen Familien, dessen Herkunft unklar ist, der nach Zwangsverkäufen, Zwangsversteigerungen und Enteignung von Juden im Nationalsozialismus erworben wurde, in die Stiftung zurückfließt und somit den Nachkommen der Entrechteten zu Gute kommt.
Ja, dadurch, dass meine Tante Christine 1958 in Berlin wohnte, konnte sie mich abends mitunter babysitten und wir lernten uns früh kennen und lieben. Meine Eltern entlohnten sie wegen der unterschiedlichen Währungen in Ost und West mit Naturalien, mit Lebensmitteln und Holz zum Heizen. So etwas konnte man damals sehr gut gebrauchen. Hatte sie doch als Studentin sehr wenig Geld. Gut beladen fuhr sie über die Grenze nach Hause.
Christine Holzkamp war übrigens 2018/19 eine der Beteiligten an den Theaterprojekten des Vereins Gleis 69 zusammen mit der benachbarten Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule. Gemeinsam engagierten sie sich gegen das Vergessen der jüdischen Geschichte Berlins und der Verbrechen des Nationalsozialismus.
Im Flur ihrer Wohnung hängt ein Zitat von Hannah Arendt: Keiner hat das Recht zu gehorchen.
Ein Kommentar
Liebe Karin Frucht,
vielen Dank für Ihren Brief mit den Berichten von Achim Freyer und der Meißner Tante, die ich mit großem Interesse gelesen habe, gerade auch den von der mit mir fast gleichaltrigen Tante, die im Frühjahr 1953 in Meißen so ziemlich dasselbe erlebt hat wie ich in der Oranienburger Oberschule! Bei uns kam Margot Feist, spätere Honecker, als oberste Pionierchefin in die Schule, um uns „die Linie“ beizubringen, und ich raffte mich auf, ihr zu widersprechen. Die Ausweisung einer Schülerin wegen ihres Festhaltens an der Jungen Gemeinde, der ich selbst angehörte, fand allerdings später statt, ein bleibend schauderhafter Eindruck. Aufgehoben wurde all dieser schreckliche Unsinn aber nicht durch den 17. Juni, sondern eine Woche vorher, durch einen Neuen Kurs, der mit allen diesen Überspitzungen brach; das wird meistens übersehen. Näheres finden Sie auf meiner Website in einem Aufsatz, der 2009 in einem Buch erschien; etwas überarbeitet heißt er „Die Woche der großen Hoffnung“. Vielleicht interessiert es auch Ihre Meißner Tante!
Auch Ihre Meißner Wurzeln haben mich sehr interessiert; die Stadt war mir immer lieb und teuer. Über Freyers Stiftungs-Haus kann man nicht kundiger und einfühlsamer sprechen, als Sie es getan haben; es wird den Meister erfreut haben. Daß er von einer Italienreise mit dem Ensemble der Volksbühne nicht in die DDR zurückkehrte, war allerdings keine Flucht, es war, glaube ich, nicht einmal Vorsatz, sondern die Schockreaktion auf die Vorstellung, von Italien nur ein kleines Stück gesehen zu haben. Die Behinderungen, unter denen er litt, bezogen sich nicht auf seine Arbeit im Theater, sondern ausschließlich auf seine freie Malerei; daß die auch im Westen nur ganz begrenzt zum Zuge kam, ist eine Sache für sich: er hatte einfach keine Lust, sich dem Management einer Galerie auszuliefern.
Sie sehen schon: Ihre Texte haben mich wirklich angeregt – und so viel gibt es noch bei derselben Adresse zu lesen!
Einen sonnigen 1. Mai wünscht
Ihr Friedrich Dieckmann
https://friedrichdieckmann.de/text.php?id=199