Nach unserem Besuch der Belziger Marienkirche und dessen Orgelmuseum wenden wir uns dem gleichfalls auf dem Kirchplatz befindlichen Geburtshaus Carl Gottlieb Reißigers zu.
Wenngleich Reißiger nur noch wenigen Musikliebhabern bekannt sein dürfte, arbeitete er während seines Lebens mit unvergessenen Künstlern wie Antonio Salieri, Carl Maria von Weber und Richard Wagner zusammen.
Die heutige im brandenburgischen Landkreis Potsdam-Mittelmark gelegene Kreisstadt Belzig darf sich seit dem Jahr 2010 aufgrund seines staatlich anerkannten Thermal-Soleheilbads offiziell Bad Belzig nennen. Zudem ist sie seit 1992 ein aktives Mitglied in dem anspruchsvollen Kollegium Städte mit historischen Stadtkernen des Brandenburger Landes, dem mittlerweile 31 bekannte Mitgliedsstädte angehören, deren Zahl in der nahen Zukunft noch anwachsen dürfte.
Zwei sehenswerte Beispiele für die historische Bausubstanz in Bad Belzig: Kirchplatz 2 – das Gebäude der Superintendentur wird heute Jakob-Wächtler-Haus genannt

Die Grundmauern des Kellers und des Erdgeschosses des im 17. Jahrhundert als Amtshaus erbauten und als evangelische Superintendentur genutzten Gebäudes am Kirchplatz 2 dürften vermutlich von einem älteren, noch mittelalterlichen Vorgängerbau stammen. Weil die Superintendentur das altertümlichste am Kirchplatz befindliche Profangebäude ist, kommt ihm eine außergewöhnliche baugeschichtliche und städtebauliche Relevanz zu. Das in Fachwerkbauweise ausgeführte und mit einem Gurtgesims versehene Haus wurde im Jahr 1994 endgültig in seiner Funktion als Belziger Superintendentur aufgehoben. Nachdem das heute als Jakob-Wächtler-Haus bezeichnete Gebäude in den 1990er Jahren mit Mitteln der Städtebauförderung saniert und restauriert worden war, wird es seit dem Beginn des neuen Millenniums von sechs betagten Mietparteien als altengerechtes Wohnhaus genutzt.
Kirchplatz 3 – das mit einer Gedenktafel versehene Reißiger-Haus

Das zwischen der einstigen Superintendentur und der spätromanisch-frühgotischen Belziger Stadtkirche Sankt Marien befindliche Reißiger-Haus trägt die Hausnummer am Kirchplatz 3. In dem am Beginn des 18. Jahrhunderts als Fachwerkhaus errichteten und zunächst als Schul- und Kantorenhaus genutzten Gebäude hat sich ebenfalls das Souterrain eines älteren Vorgängerbaus erhalten. Das hübsche Fachwerkgebäude ist das Geburtshaus des beliebten Komponisten und späteren Dresdener Hofkapellmeisters Carl Gottlieb Reißiger. Nachdem das Reißiger-Haus in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts aus öffentlichen Mitteln wieder instand gesetzt und in seinem ursprünglichen Aussehen restauriert worden war, beherbergt es heute nicht nur die Räume der Belziger Diakonie, sondern es wird auch als Wohnhaus genutzt.
Wer war der Belziger Komponist Carl Gottlieb Reißiger?

Der im Jahr 1798 im damaligen königlich sächsischen Belzig geborene Carl Gottlieb Reißiger war der zweite Sohn des örtlichen Kantors Christian Gottlieb Reißiger. Auch Carl Gottliebs älterer Bruder, Friedrich August, schlug eine musikalische Laufbahn ein. Gemeinsam hatten die beiden musikalisch begabten Reißiger Brüder von ihrem Vater den ersten Musikunterricht erhalten, wobei Carl Gottlieb die Violine und das Klavier spielte. Ab dem Jahr 1811 besuchte der junge Reißiger die berühmte Thomasschule zu Leipzig und erhielt von dem dortigen Thomaskantor Schicht neben dem obligatorischen Klavier- auch den ersten Kompositionsunterricht. Bereits als talentierter Schüler sang Carl Gottlieb im legendären Thomanerchor und gab aufgrund seiner schönen Alt-Stimme die ersten Solokonzerte mit dem Leipziger Theaterorchester, das wir besser unter dem populäreren Namen Gewandhaus kennen. Das am heutigen Augustusplatz gelegene Gewandhaus diente in seiner ursprünglichen Funktion den gut betuchten Leipziger Woll- und Tuchwarenhändlern als Messe- und Warenhaus.
Reißiger beginnt ein Theologiestudium und musiziert im Leipziger Gewandhausorchester
Nachdem Carl Gottlieb Reißiger 1818 an der zweitältesten Deutschen Universität, der Alma Mater Lipsiensis, der Leipziger Universität, ein Theologiestudium aufgenommen hatte, musste er sehr schnell entdecken, dass seine eigentliche Liebe der Musik gehörte. Folglich begann er noch im gleichen Jahr sein anspruchsvolles Theologiestudium abzubrechen, um bis 1821 intensiv Musik zu studieren. Außerdem musizierte Reißiger von 1818 bis 1820 als zweiter Geiger und Bratscher im Leipziger Gewandhausorchester.
Reißiger als Stipendiat der preußischen Regierung in Wien – Unterricht bei Antonio Salieri

Im Jahr 1821 erhielt Reißiger ein generöses Stipendium der preußischen Regierung, das es ihm ermöglichte, Unterricht bei dem berühmten italienisch-österreichischen Musikpädagogen und Komponisten Antonio Salieri in Wien zu nehmen. Den heutigen Zeitgenossen dürften Salieris vierzig Opern, kammer- und kirchenmusikalische Werke weitgehend unbekannt sein, hingegen ist er als boshafter Italiener und größter Kontrahent des musikalischen Genies Wolfgang Amadeus Mozarts eher in allgemeiner Erinnerung geblieben. Zweifellos hatte Mozart gegen Ende seines kurzen Lebens mehrmals in seiner Korrespondenz mutmaßliche Cospirations Salieris gegenüber seiner Person erwähnt. Mozart vermutete auch, vergiftet worden zu sein. Indessen finden sich in unseren Quellen keine stichhaltigen Hinweise, die auf eine tödliche Rivalität zwischen den beiden Komponisten schließen lassen. Rießiger komponierte während seiner Wiener Zeit bei dem Kapellmeister Salieri seine erste Oper Das Rockenweibchen, bevor er 1823 sein Musikstudium in München an der Isar fortsetzte. Im Auftrag des preußischen Kultusministeriums konnte Reißiger in den Jahren von 1824 bis 1825 eine längere Studien- und Bildungsreise durch Italien, Frankreich und Belgien absolvieren.
Bei Carl Friedrich Zelter an der Singakademie zu Berlin, dem heutigen Maxim Gorki Theater

Nach seiner vom preußischen Kultusministerium finanzierten Studienreise blieb Carl Gottlieb Reißiger während des Jahres 1826 gleich in Berlin, wo er seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer bestritt. Darüber hinaus sang er temporär in dem am Festungsgraben unweit des namhaften Linden-Boulevards befindlichen Konzertgebäudes der neu gegründeten Sing-Akademie zu Berlin – dem heutigen Maxim Gorki Theater –, deren damaliger Direktor der Komponist, Dirigent und Musikpädagoge Carl Friedrich Zelter war, der einen großen musikpolitischen Einfluss über Preußens Grenzen hinaus besaß. Der in Berlin als Sohn eines situierten Mauermeisters geborene Zelter muss eine außergewöhnliche Charaktergestalt gewesen sein. Nachdem er ebenfalls den praktischen Beruf eines soliden Maurers erlernt und den abschließenden Meisterbrief erworben hatte, war er in den väterlichen Betrieb eingetreten. Neben seiner handwerklichen Tätigkeit als versierter Maurermeister bildete Zelter sich im musikalischen Bereich autodidaktisch weiter. Ein weiterer Hinweis auf dessen einzigartige Persönlichkeit war die ab dem Jahr 1802 beginnende Bekanntschaft mit dem großherzoglichen Geheimen Rat, Dichterfürsten und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe, die sich im thüringischen Weimar an der Ilm kennen und schätzen gelernt hatten. Aus jener ersten Begegnung zwischen den beiden hatte sich eine innige Freundschaft mit vielen persönlichen Zusammentreffen und ein über 30 Jahre lang andauernder Briefwechsel entwickelt. Professor Zelter war einer der wenigen Duzfreunde Goethes, der zahlreiche Gedichte aus dessen Sturm und Drangzeit sowie der Weimarer Klassik des Frankfurter Universalgenies erhielt, die er jenem vertont zurück sendete.
Reißiger wird Musikdirektor des Königlichen Hoftheaters und Dresdener Hofkapellmeister

Im Winter des Jahres 1826/27 verschlug es Reißiger in die sächsische Residenzstadt Dresden, wo er zunächst zum Musikdirektor des Königlichen Hoftheaters berufen wurde. Zwei Jahre später trat er die Nachfolge Carl Maria von Webers als Dresdner Hofkapellmeister an, dessen romantische Oper Der Freischütz noch heute zum festen Repertoire weltweiter Opernhäuser gehört. Carl Maria von Webers Vater, Franz Anton, besaß übrigens einen Halbbruder, Franz Fridolin Weber, der der Vater von Mozarts späterer Ehefrau Constanze war. Folglich war Carl Maria von Weber ein angeheirateter Cousin von Wolfgang Amadeus Mozart. Noch unter der musikalischen Leitung von Weber war die Uraufführung von Reißigers zweiter Oper Dido in Dresden erfolgt. Zur feierlichen Einführung in sein Amt als neuer Hofkapellmeister hatte Reißiger 1827/28 eine großartige Missa Solemnis, eine sogenannte feierliche Messe, komponiert. Seine zeitaufwendige Position als Dresdner Hofkapellmeister wird Reißiger bis zu seinem Tod im Jahr 1859 bekleiden.
Uraufführungen von Reißigers Oper Die Felsenmühle, des Requiems und des Oratoriums David
Zwei Jahre nachdem Reißiger seine neue Dirigentenstelle als Dresdener Hofkapellmeister übernommen hatte, wurde dessen dritte von insgesamt acht Opern Die Felsenmühle mit bedeutsamen Erfolg uraufgeführt. Ebenso wurden das von ihm 1837/38 komponierte große Requiem in d-Moll und das Oratorium David bei der Dresdener Uraufführung von dem Komponisten persönlich dirigiert. Obwohl Reißiger während seines gesamten Lebens ein produktiver Künstler war und bei seinen Mitbürgern als ein hoch geachteter Tonkünstler galt, ist sein umfangreiches Œuvre überwiegend in allgemeine Vergessenheit geraten. Bedauerlicherweise werden sowohl sein zur Kirchenmusik zählendes Oratorium David als auch sein polyfones Requiem in d-Moll nicht mehr aufgeführt. Allerdings gibt es dafür einen speziellen Grund. Weil sämtliche geistlichen Tonschöpfungen, die alle Dresdener Hofkapellmeister verbindlich komponieren mussten, in Reißigers Epoche lediglich in der barocken, am Altstädter Elbufer stehenden Hofkirche Sanctissimæ Trinitatis, der heiligsten Dreifaltigkeit, gespielt werden durften, waren jene Messen, Psalmen, Chörale und Motetten auch nicht im Druck erschienen, so dass sie bis heute weitgehend unbekannt sind.
Reißigers Zusammenarbeit mit Richard Wagner als Dresdener Hofkapellmeister 1842-49

Im Frühjahr 1842 hatte der in Leipzig geborene Komponist, Dirigent und Opernregisseur Richard Wagner von der Dresdener Hofoper unter der musikalischen Leitung von Carl Gottlieb Reißiger die sensationelle Mitteilung übermittelt bekommen, dass seine dritte vollendete Oper Rienzi, der letzte der Tribunen, noch im Herbst desselben Jahres uraufgeführt werden sollte. Da der Rienzi-Oper ein phänomenaler Triumph beschieden war, bedeutete sie den künstlerischen Durchbruch des erst 29-jährigen Leipziger Tondichters. Nach dem spektakulären Erfolg jenes großartigen tragischen Musikwerks stand auch der geplanten Uraufführung von Richard Wagners erster romantischen Oper Der Fliegende Holländer – die unter der Stimmung einer orkanartigen Seereise komponiert worden war –, nichts mehr im Weg. Bereits vier Wochen nach der am 02. Januar 1843 erfolgten Uraufführung des Fliegenden Holländers am Dresdner Hoftheater wurde Richard Wagner am 02. Februar gleichfalls zum Königlich-Sächsischen Kapellmeister ernannt. Sein wohlwollender Mentor Carl Gottlieb Reißiger wurde indessen zum ersten Hofkapellmeister designiert. Nachdem Reißiger nach langer schweren Krankheit am 07. November 1859 in Dresden gestorben war, wurde er im Stadtteil Johannstadt auf dem Trinitatisfriedhof beigesetzt.

Hinweis
Jakob-Wächtler-Haus ∙ Kirchplatz 2 ∙ 14806 Bad Belzig ∙ Landkreis Potsdam-Mittelmark
Reißiger-Haus ∙ Kirchplatz 3 ∙ 14806 Bad Belzig ∙ dito
Lesenswert
Heinze, Claudia & Manfred Fensterer: Die Messen von Carl Gottlieb Reissiger, in: Herrmann, Matthias, Hrsg.: Die Dresdner Kirchenmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Laaber 1998