Mit unserem Reisebus aus Neuruppin kommend besuchen wir in dessen eingemeindeten, an der Lanke gelegenen Ortsteil Wuthenow, die klassizistische Schinkelkirche des 19. Jahrhunderts. An warmen Sommerabenden genießen wir den dortigen Sonnenuntergang und den fabelhaften Blick über den Ruppiner See auf die gegenüber liegende Neuruppiner Stadtsilhouette mit ihren beiden neogotischen Türmen der früheren Dominikanerklosterkirche Sankt Trinitatis.
Nicht nur versierten Kennern der Werke Theodor Fontanes, sondern auch allgemein Bewanderten in der Literatur des poetischen Realismus aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Fontanes ‚Schach von Wuthenow’1 – Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes – ein gut vertrauter Begriff sein. Allerdings suchen burschikose, extra nach Wuthenow angereiste Touristen das von Fontane hervorragend beschriebene, aber trotzdem fiktive Schloss seiner Meistererzählung vergebens. Dennoch stand der 1993 in die Kreisstadt Neuruppin eingemeindete Ortsteil Wuthenow am Ufer der in der sorbischen Sprache mit ‚Wiese’ oder ‚Sumpf’, (Łuka) bezeichneten Lanke namengebend Pate für Fontanes Erzählung ‚Schach von Wuthenow’. Auf der anderen Seite werden etwas enttäuschte Ausflügler in dem seit 1319 existierenden ‚Wotenowe’ – wenn sie nun schon einmal dort sind – mit der Möglichkeit eines sie bereichernden Besuchs einer klassizistischen Dorfkirche, der Schinkelkirche, entschädigt, deren Entwurf von keinem geringeren als dem einstmals gefeierten Neuruppiner Architekten, dem Erbauer des großartigen Berliner Schauspielhauses Karl Friedrich Schinkel höchstpersönlich stammt.
Die Schinkelkirche des 19. Jahrhunderts
Mit dem 1836 symbolisch ausgeführten ersten Spatenstich wurde mit der Errichtung der bereits vierten Sankt Petri geweihten Dorfkirche auf dem Wuthenower Lankeberg begonnen. Architektonisch konzipiert wurde sie von der Berliner Oberbaudeputation, der höchsten Baubehörde Preußens, deren Direktor der legendäre Baumeister Schinkel selbst war. Dementsprechend ist die „Schinkelkirche“ im charakteristischen Rundbogenstil des 19.Jahrhunderts gehalten. Irrtümlicherweise steht noch heute in zahllosen Fachartikeln geschrieben, dass die praktische Leitung zur technischen Konstruktion der Schinkelkirche in den Händen vom ‚Baukondukteur’, dem Baubeamten Friedrich Wilhelm Jacobi gelegen haben soll. Inzwischen gilt es aufgrund eines aufgefundenen Schriftwechsels zwischen Jakobi und Schinkel aber als gesichert, dass der ursprüngliche Bauplan der Kirche als klassizistischer Putzbau mit einem dominierenden Mittelturm doch von Meister Schinkel eigenhändig angefertigt worden sein muss. Schließlich wurde 1837 die neue Schinkelkirche fertiggestellt, die entgegen anderer brandenburgischer Gotteshäuser keine der sonst üblichen Ost-West-Richtungen aufweist, sondern die praktischerweise parallel zur Wuthenower Dorfstraße errichtet worden war.
Belege und Rechnungen verdeutlichen uns, dass der nunmehr vierte Kirchenbau in der heute über 700 Jahre alten märkischen Gemeinde jener damals die stattliche Summe von 3.977 Taler gekostet hatte und dass noch einmal 3.339 zusätzliche Taler für die Konstruktion des markanten Hauptturmes ausgegeben werden mussten.
Drei Türme und drei Glocken
Der massive und dominante Hauptturm der Kirche, an dem auch die im Jahre 1910 konstruierte Turmuhr angebracht worden ist, misst eine stattliche Höhe von über 19,30 Metern. In den beiden Seitentürmen sind die Glockenstühle untergebracht, wobei die größte Glocke in der nördlichen Glockenkammer platziert worden war. Im südlichen, der Wuthenower Dorfstraße zugewandten Glockenstuhl hängen zwei kleinere Glocken. Aufgrund des beherzten Zupackens eines pflichtbewussten Küsters konnte eine einzige, vermutlich noch aus dem 13. Jahrhundert stammende Kirchenglocke, für die dankbare Wuthenower Gemeinde gerettet werden. Noch heute rufen die sonoren Glocken die frommen Gläubigen dazu auf, zu den feierlichen Gottesdiensten in ihre andächtige Schinkelkirche auf dem nahen Lankeberg zu kommen. Außerdem findet seit alters her an jedem Tag um 18.00 Uhr das traditionelle Abendläuten statt.
Schinkels ganzheitliche Konzeption des Kirchenschiffs
Karl Friedrich Schinkel konnte zum einen seine Vision bei der Anordnung des Kanzelaltars in Verbindung mit der Altarwand, der Taufe, der Empore mit dem Orgelprospekt, der Schauseite des großen Tasteninstruments, und dem Gestühl verwirklichen. Zum anderen entsprachen die soeben genannten Aspekte auch seinem Verständnis, nach dem sich die als adäquat empfundene Predigt, die Liturgie und das Sakrament allesamt im Kircheninnenraum ganzheitlich aufeinander beziehen sollten.
Nachdem wir den hellen Innenraum betreten haben, wird unser suchender Blick ad hoc auf den auf einem hohen Podest stehenden Altar gelenkt, auf dem sich lediglich ein schlichter Tisch, die sogenannte Mensa, befindet. Ebenso angenehm fällt der ungekünstelte Stil der halbrunden, mit weißen und goldenen Farben gestalteten Kanzel sofort in das Auge des Betrachters. An dunklen herbst- und winterlichen Tagen spenden drei an die Decke des Innenraums montierte Kronleuchter aus dem 18. Jahrhundert den Gläubigen ein wärmendes Licht.
Neuruppins älteste Stadtansicht, der Prospectus Ruppinensis ac Wuthenowiensis
Drei Gemälde schmücken die Kirche. Dazu gehören ein Bildnis von ‚Christus mit der Weltkugel’ und ein Ölgemälde, das das kräftige Konterfei des großen Reformators Martin Luther aus Eisleben wiedergibt. Unmittelbar neben dem Altar hängt ein in Öl auf Leinwand gemaltes Bild, der ‚Prospectus Ruppinensis ac Wuthenowiensis’, die ‚Ansicht von Ruppin und Wuthenow’, bei der es sich wahrscheinlich um die älteste bekannte Stadtansicht von Neuruppin handelt.
Nach Aussage der Inschrift geht die Entstehung des Gemäldes auf eine Idee des Superintendanten der Sankt Petri Kirche, Samuel Dietrich, zurück. Gemalt hat es schließlich Heinrich Krüger im Jahre 1694. Bei der genaueren Betrachtung des Kunstwerks sind darauf nicht nur die Stadt Neuruppin am Rande des Ruppiner Sees mit ihrer wehrhaften mittelalterlichen Stadtmauer, ihrem gotischen Tor samt behelmten Wächter mit seiner spitzen Lanze und die beiden markanten Türme der Klosterkirche Sankt Trinitatis zu sehen, sondern linker Hand können genauer hin Schauende auch das kleine, damals ‚Wütenow’ genannte Dorf Wuthenow erkennen.
Unser vielfach erwähnter Heimatchronist Theodor Fontane überlieferte der interessierten Nachwelt in seinen ‚Wanderungen’, dass „dies[es] seltsame Bild, das nicht nur ‚gemalt’, sondern, ‚wie ein ächtes Kunstwerk’, auch ‚erfunden’ ist, aus zwei Hälften, aus einer realistischen und einer allegorischen besteht (…).“3 Selbstverständlich hat diese detaillierte Stadtansicht nicht nur für künstlerische Liebhaber sondern auch für Mediävisten einigen Aussagewert, weil das mittelalterliche Ruppin bekanntlich bei dem ‚Großen Brand’ von 1787 ein Raub der Flammen geworden war und dessen damalige Stadtsilhouette heute anhand dieses außergewöhnlichen Gemäldes gut rekonstruiert werden kann.
Es erstaunt uns zu erfahren, dass an jenem verhängnisvollen Sommerabend, den 26. August 1787, auf der Wuthenower Kirchenkanzel ein gewisser ‚Inspector’ Johann Christoph Schinkel gepredigt hatte, der kein geringerer als der Vater des berühmten Baukünstlers Karl Friedrich Schinkel gewesen war. Als gefragter Augenzeuge erlebte Schinkel senior jenen schicksalsschweren Tag mit, als am gegenüberliegenden Ufer des Ruppiner Sees die heiße Feuersbrunst des ‚Großen Brandes’ fast drei Viertel der mittelalterlichen Bausubstanz Neuruppins unwiederbringlich verzehrt hatte.
Weiteres Inventar der Schinkelkirche
Zum weiteren Inventar des Gotteshauses gehört ein als Altarleuchter dienendes Leuchterpaar, das um 1840 in Berliner Eisenkunstguss ausgeführt worden war. Vielleicht ist es bekannt, dass die künstlerische Blütezeit der Königlichen Eisengießereien in Berlin ungefähr in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gelegen hatte. Damals waren neben großen Aufträgen für Öfen, Denkmäler, Bildnisbüsten und Gartenmöbel, auch kleinformatige Geräte angefertigt worden. Allerdings weisen die beiden Wuthenower Altarleuchter schon in die Spätzeit dieser Kunst hin, die sich darin zeigt, dass sie trotz ihres noch immer strengen klassizistischen Stils bereits ein wenig auf die kommende industrielle Massenware hindeuten.
Wuthenow in unserer Zeit
Die Wuthenower Dorfbewohner sind sich in einem Punkt einig, dass sie alle recht gerne in ihrem Ort leben, der schon seit längerer Zeit eine kleine Oase für gestresste und gereizte Stadtmenschen geworden ist.
Bereits um das Jahr 1900 waren hier am bewaldeten Ufer der Lanke hübsche Villen und bequeme Wochenendhäuser erbaut worden, aus deren Fenstern teilweise ein weiter Ausblick über den stillen Ruppiner See auf die Stadtsilhouette des gegenüber gelegenen Neuruppins möglich ist. Damals existierte sogar ein lebhaft frequentiertes Ausflugscafé, das aber leider bis heute nicht erhalten blieb. In unseren Tagen genießen die Gäste und Urlauber der Ferienhäuser ihre entspannte Ruhe am klaren Seewasser, im nahegelegenen Wald und bei ausgedehnten Spaziergängen auf einsamen Feldwegen. An der Lanke, die eigentlich nur eine kleine Bucht des Ruppiner Sees ist, gibt es eine schöne Badestelle, die vom späten Frühjahr bis in die ersten Herbsttage hinein durch das Neuruppiner Gartenamt gepflegt wird. Im Sommer ist für planschende Kinder der Nichtschwimmerbereich sichtbar markiert und das üppig sprießende Gras der Liegewiese wird regelmäßig gemäht. Spektakulär sind die Wuthenower Sonnenuntergänge, wobei der über den See schweifende Blick auf den beiden neogotischen Türmen der ehemaligen Dominikanerklosterkirche Sankt Trinitatis in Neuruppin ruht.
Vielleicht erinnern wir uns dabei an die amüsante Überlieferung einer volkstümlichen Legende, in der von Wichmann von Arnstein, dem ersten Prior des Neuruppiner Dominikanerordens, berichtet wird, der von Wuthenow aus den kürzesten und direktesten Wasserweg zu Fuß (!) über den Ruppiner See, in das von ihm persönlich gestiftete Kloster am gegenüber liegenden Seeufer genommen haben soll, als ihn die mahnende Glocke der Abteikirche Sankt Trinitatis zur abendlichen Vesper gerufen hatte. In der katholischen Kirche bedeutet die Vesper das liturgische Abendgebet. Andererseits kennen wir alle die vor allem im alemannisch-bayerischen Sprachraum vorkommende Vesper des Abendessens.
Literatur
1Vgl. Fontane, Theodor: Schach von Wuthenow, in: Werke in Einzelausgaben, hg. von Christfried Coler, Berlin 21959, S. 273-438
2Vgl. Büttner, Horst; Ilse Schröder & Christa Stepansky: Kunstdenkmäler, Bildband IV, hg. vom Institut für Denkmalpflege, Berlin 1987. S. 147, Nr. 317, Text zu Wuthenow. Bildtafel 317, zwei Altarleuchter der Dorfkirche Wuthenow
3Zit. Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 1, Die Grafschaft Ruppin. Hg. von Christfried Coler, Berlin 1960