Wir besuchen die neben der früheren Neuruppiner Klosterkirche an der mittelalterlichen Stadtmauer stehende ‚Wichmann-Linde’, unter der der einzige märkische Heilige, Prior Wichmann, begraben sein soll. Dabei genießen wir einen längeren Blick auf den stillen Ruppiner See. Anschließend besichtigen wir die original erhaltene Sandsteinstatue des Heiligen in der vis-à-vis gelegenen Dominikanerklosterkirche.
Jedem Neuruppiner, ob jung oder alt, groß oder klein, dürfte die historische Persönlichkeit des unvergessenen Paters Wichmann von Arnstein ein Begriff sein. Er hatte nicht nur als Prior und Mystiker den Grundstein für das von ihm und seinem Bruder Gebhard 1246 gestiftete Dominikanerkloster gelegt, sondern maßgeblich auch die erste Blütezeit der am Ufer des Ruppiner Sees gelegenen Siedlung mitbefördert, die schnell zur bedeutenden mittelalterlichen Landstadt Neuruppin avancierte. Die nach dem bedauerlichen Abriss des ruinösen Dominikanerklosters im 16. Jahrhundert auf einer kleinen Anhöhe gelegenen und glücklich erhalten gebliebenen Stiftskirche Sankt Trinitatis, die ‚Dreifaltig-/Dreieinigkeit’, bildet mit ihren beiden neogotischen Kirchtürmen von alters her das weithin sichtbare Wahrzeichen Neuruppins. Noch immer erfreut die schlichte gotische, aus roten Backsteinen erbaute Saalkirche zahllose Einheimische aber auch in- und ausländische Besucher aufgrund ihrer markanten, das Stadtbild bestimmenden Silhouette.
Zwei ‚Männer des Kampfes’ – Erzbischof Wichmann von Magdeburg & Wichmann von Arnstein
Der aus dem althochdeutschen stammende Name – Wichmann – bedeutet: ‚Mann des Kampfes’. Im Mittelalter war er häufig gebräuchlich. Nicht nur geschulte Mediävisten sondern auch heimatgeschichtlich interessierte Amateure kennen einen anderen berühmten Wichmann aus jener Epoche des 12./13. Jahrhunderts in unserer norddeutschen Region. Bei ihm handelt es sich um Wichmann, Graf von Seeburg, der als mächtiger Erzbischof von Magdeburg den Territorialbesitz seines kirchlichen Sprengels systematisch ausgedehnt und arrondiert hatte. Außerdem hatte der energische Magdeburger 1171 das im heutigen Landkreis Teltow-Fläming gelegene Zisterzienserkloster Zinna, Sancti Mariae, der heiligen Maria, gestiftet, um die bedrohliche Südexpansion der mit ihm konkurrierenden und benachbarten Markgrafen von Brandenburg einzudämmen.
Sowohl der ältere Erzbischof Wichmann als auch dessen gleichfalls nach Magdeburg an die Elbe gekommener jüngerer Namensvetter, Wichmann von Arnstein, werden im Verlauf ihres langen Lebens mit allen ihren zur Verfügung stehenden Kräften den kontinuierlichen Ausbau ihrer jeweiligen Herrschaft vorantreiben. Unser Dominikanerpater Wichmann förderte ferner den Aufbau der jungen Stadtgemeinde, der civitas Neuruppin.
Mit seinem immensen Wissen, das auch in der Kräuter- und Pflanzenheilkunde auf der Basis von Wildkräutern, Wurzeln sowie frischen und getrockneten Heilpflanzen lag, stand er sämtlichen Neuruppiner Einwohnern aus allen gesellschaftlichen Schichten unermüdlich mit Rat und Tat zur Seite.
Wichmanns große Familie, seine Magdeburger Jugendzeit, Begegnung mit Mechthild von Helfta
Wichmann war um 1185 als jüngster von vier Söhnen Walthers III. in die thüringische Familie des hochadeligen Hauses der Grafen von Arnstein hineingeboren worden. Von seinem Bruder Gebhard stammt später die gräfliche Linie Lindow-Ruppin ab, deren zahlreichen Familienmitgliedern die Neuruppiner Dominikaner als Erzieher und Lehrer, als Beichtväter und Prediger dienen werden. Zudem hatte die Familie der Grafen von Arnstein, von Lindow und der Herren von Ruppin, wie sie sich offiziell nannte, eine exquisite Begräbnisstätte, eine Grablege, im heiligen Chor, dem Altarraum, der Klosterkirche St. Trinitatis gefunden. Überdies wird in der Prosopographie, der Erforschung historischer Stammbäume, vermutet, dass Wichmann mit der zu einem vornehmen Familienverband gehörigen Mechthild von Helfta, auch ‚von Magdeburg’ genannt, verwandt ist. Sie war mit der ritterlichen Kultur, dem Minnesang der Troubadoure aber auch mit der Mystik gut vertraut. Mechthilds Schriften, die größtenteils an ihrem langjährigen Aufenthaltsort, dem Zisterziensernonnenkloster Sankt Marien zu Helfta bei Eisleben von ihr verfasst wurden, gelten als erste deutsche Aufzeichnungen der Mystik. Die nach ihrem Leben heilig gesprochene Mechthild war um 1230 nach Magdeburg gekommen, wo Wichmann ihr vermutlich später als Beichtvater diente.
Zunächst aber war 1194, im zarten Alter von 9 Jahren, der noch blutjunge Wichmann zur seiner umfassenden Ausbildung in den größten Orden römisch-katholischer Chorherren, dem Magdeburger Prämonstratenser-Konvent, aufgenommen worden. In dem von Erzbischof Norbert von Xanten gegründeten Orden lebte Wichmann zuerst als Kanoniker (1207). Bereits 3 Jahre später, 1210, wurde er zu deren ´Vorgesetzen’, als Propst, berufen.
Wichmanns erste Kontakte zum Dominikanerorden – das Ende seiner kirchlichen Laufbahn
Es ist interessant zu wissen, dass Wichmann schon in jungen Jahren erste Verbindungen zu dem neu gegründeten Dominikanerorden knüpfte, der in der zweiten Hälfte seines Lebens für ihn prägend sein wird. Demzufolge unterstützte Propst Wichmann ab 1224 die örtliche Niederlassung des nach ihrem Schutzheiligen, dem Apostel Paulus benannten Dominikanerorden, dessen Brüder bereits nach 9 Jahren seit der Ordensgründung in Altkastilien bis ins norddeutsche Magdeburg gekommen waren. Von den gotischen Gebäuden des Paulinerklosters der Dominikaner und deren Klosterkirche St. Pauli blieben leider keine mittelalterlichen Relikte an der schönen Elbestadt erhalten. Obendrein war Wichmann 1221 in der kirchlichen Hierarchie weiter emporgestiegen, in dem er zum Bischof von Brandenburg gewählt worden war.
Wenngleich Papst Honorius III. ihn im Jahre 1225 die bischöflichen Insignien verliehen hatte, konnte jener in der Praxis nicht sein hohes Amt in der Stadt an der Havel antreten. Offenbar hatten nicht nur das schmerzhafte Fiasko von Wichmanns erfolglosen Bemühungen um seine feierliche Ordination auf den vakanten Brandenburger Bischofstuhl, sondern auch dessen fruchtbare Begegnung mit der soeben entstandenen religiösen Armutsbewegung des 13. Jahrhunderts jetzt seinem Leben den entscheidenden Impuls hin zu einem essenziellen Wandel gegeben.
In dessen Folge dürfte er auf eine weitere kirchliche Karriere verzichtet und sich unmissverständlich der neuen, mystischen Spiritualität zugewandt haben, so dass er im Jahr 1230 endgültig in den noch immer jungen Orden der Dominikaner hinübergewechselt war.
Prior Wichmanns zweite Lebenshälfte – seine Skulptur in der Neuruppiner Klosterkirche
Wie dürfen wir uns den Prior Wichmann in seiner zweiten Lebenshälfte, in seiner märkischen Zeit, bildlich vorstellen? In Neuruppin haben wir besonders Glück. In unserem Fall blieben die vollplastische Sandsteinskulptur des sogenannten ‚Bruder Wichmann’ von einem unbekannten Künstler des späten 14. Jahrhunderts und mehrere Reliefs mit biblischen Themen erhalten, die ebenfalls von namenlosen Steinmetzen einer mittelalterlichen Bauhütte in die Chorwände der Stiftskirche St. Trinitatis eingefügt worden sind. Sie können noch heute von Gläubigen und Gästen betrachtet werden. Weitblickend hat sich 2004 sowohl zur weiteren Erhaltung als auch für anstehende und erforderliche Rekonstruktionen an der Neuruppiner Klosterkirche ein engagierter Förderverein gegründet.
Dominikanerprior Wichmann, der Mystiker
Nachdem das gräfliche Brüderpaar von Arnstein 1246 das erste Dominikaner-Kloster in Brandenburg gegründet hatte, erlebte die kleine Landstadt am Ruppiner See auch seine erste mittelalterliche Blütezeit katholischen Lebens. Viele Neuruppiner Ortsteile, zu denen Wuthenow, Karwe, Radensleben und Molchow gehören, um nur einige zu nennen, werden aufmerksame Leser in Theodor Fontanes ‚Wanderungen’ und in seinen Romanen wiederfinden.
Über sein praktisches und organisatorisches Talent am Auf- und Ausbau ‚seines’ Dominikanerklosters und der jungen Stadt Neuruppin hinaus, war Wichmann gleichermaßen im geistig philosophischen Bereich der Deutschen Mystik bedeutend. Die von ihm überlieferten ‚Traktate’ zeigen uns deutlich den Einfluss, den die Liebesmystik des Heiligen, Priesters und Kirchenlehrers Bernhard von Clairvaux, des legendären Gründers und ersten Abts des Zisterzienserklosters Clairvaux in der französischen Champagne, auf Wichmann gemacht haben muss. Ebenfalls weist Wichmanns biographisch verfasste und mit kommentierenden Abschnitten versehene Schrift, die als ‚Legende’ bezeichnet wird, auf einige seiner persönlichen Gedanken hin. Eigentlich war Individualität im Mittelalter kaum vorgesehen, große Familienverbände und hierarchisch organisierte Stände prägten und formten hingegen den Einzelnen.
Für Wichmanns mystische Begabung zählen sechs von seiner Hand erhaltene Briefe, von denen fünf allein an Frauen, wie jene an die Zisterziensernonnen im Kloster Zimmern in Deiningen bei Nördlingen gerichteten, hinweisen. Die Heilige Mechthild von Magdeburg (von Helfta) war von Wichmanns Persönlichkeit, seinem universalen Wirken und seiner starken Ausstrahlung äußerst beeindruckt. Die anderen Zisterziensernonnen im Kloster Helfta könnten mit zu jenem spirituellen Kreis um Wichmann gehört haben. Sogar noch über seinen Tod hinaus wurden dem ersten Prior des Neuruppiner Dominikanerklosters mehrere Wundertaten zugeschrieben.
Zwei Wichmann-Legenden – ‚Der Wels’ und die ‚Wichmann-Kutsche’
Nach der Überlieferung – ‚Der Wels’ – soll dieser große Süßwasserfisch auf Pater Wichmanns ausdrückliches Kommando hin völlig zwanglos aus dem Ruppiner See in eine schon bereit gestellte Bratpfanne des Klosterkochs gesprungen sein, nachdem sich die schmalen Vorräte in den Speisekammern der Klosterküche ihrem absehbaren Ende zugeneigt hatten.
In der Legende – die ‚Wichmann-Kutsche’ – wird berichtet, dass der Prior nach seinem Tode gelegentlich als ein Phantom in einer von weißen, kopflosen Rössern gezogenen Kalesche gesehen worden war. Ebenso soll sein Geist, der in einem Pferdewagen in rauen Silvesternächten über das Ruppiner Land reist, angefahren kommen. Dabei vergewissert er sich, ob auch seine strikten Gebote bezüglich der ‚Wichmann-Linde’ befolgt werden, bei der es sich eigentlich botanisch korrekt um eine Winter- bzw. eine Steinlinde handelt.
Ein Besuch an der 750 Jahre alten ‚Wichmann-Linde’ – die beiden Särge des Priors
Die ‚Wichmann-Linde’, deren sagenumwobene Historie uns ebenfalls in einer Legende überliefert wird, steht auf einem kleinen Rondell in Sichtweite der mittelalterlichen Stadtmauer, südöstlich des Chors, des Altarraums, der ehemaligen Neuruppiner St. Trinitatis Klosterkirche. Es ist ein schöner schattiger Platz auf dem sich die Linde erhebt, von dem wir weit hinaus auf den ruhigen Ruppiner See blicken und entspannen können. Der über 750 Jahre alt gewordene sommergrüne Laubbaum, der von einem Blitz getroffen wurde und indessen hohl geworden ist, steht noch immer jedes Jahr in voller Blütenpracht. Es wird berichtet, dass Pater Wichmann vor seinem Tod, am 2. November 1270, angeordnet haben soll, zuerst in einen gläsernen Sarg gebettet zu werden. Über jenen Totenschrein solle noch ein zweiter, ein silberner gesetzt werden. Zusätzlich wollte Wichmann das, einem alten germanischen Brauch entsprechend, eine Linde auf sein Grab gepflanzt werde. Des Weiteren führte er aus, dass erst danach, wenn die Winter-Linde eines fernen Tages vergangen sei, seine Ruhestätte auch geöffnet werden kann. Dies dürfe aber auf gar keinen Fall eher geschehen. Folglich müsste seit über 750 Jahren der Dominikanerprior Wichmann als einziger Heiliger der katholischen Kirche in märkischer Erde liegen. Sein Gedenktag, der gleichzeitig sein Todestag ist, wird unter gläubigen Katholiken an jedem 2. November begangen.
Hinweis
Sowohl die einstige Dominikaner-Klosterkirche St. Trinitatis als auch die ‚Wichmann-Linde’ können barrierefrei besucht werden. Da beide Denkmäler aufeinander bezogen sind und in Sichtweite beieinander stehen, sollten sie auch nacheinander aufgesucht werden.
Link
www.heiligenlexikon.de
Literatur
Heinrich, Gerd: Die Grafen von Arnstein, in: Mitteldeutsche Forschungen, Band 21. Köln & Graz 1961
Feuerstake, H. Jürgen & Oliver H. Schmidt (Hgg.): Zisterzienserklöster in Brandenburg – ein kultur-historisch-touristischer Führer, Berlin 1998, S. 143-50. Zum Kloster Zinna & Erzbischof Wichmann von Magdeburg
Schulze, Johannes: Geschichte der Stadt Neuruppin. Neuauflage, Berlin 2012