Kirchensprengungen haben einst die Totenruhe gestört. Eine geheimnisvolle Camera obscura schwebt auf einem Turm. Bäume verwandeln sich in Papier. Wir bringen Ihnen verwunschene Geschichten aus dem Vorerzgebirge nahe – aus der Geburtsstadt des Fabeldichters und Philosophen Christian Fürchtegott Gellert.
Lebe, wie Du, wenn Du stirbst, wünschen wirst, gelebt zu haben. Diese in Worte gefasste Weisheit verdanken wir dem zu Lebzeiten sehr bekannten Fabeldichter Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769). Der Philosoph und deutsche Lyriker, dessen Vorlesungen der junge Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) besuchte, ist in Hainichen geboren. Die mittelsächsische Kleinstadt mit heute etwa 9000 Einwohnern wurde erstmalig im Jahr 1276 erwähnt und war als Stadt mit Tuchmachertradition bekannt. Vom Tuch zum Buch ist es nicht nur orthografisch nicht weit, sondern (wie wir uns vor Augen führen werden) auch kulturell und handwerklich nicht. Folgen wir also der Losung des bekanntesten Sohnes der Stadt und nutzen den Tag für einen wunderbaren Ausflug nach Hainichen im Vorerzgebirge. Eine Reise, die man gemacht hat, kann einem niemand mehr wegnehmen; also geht es mit dem Reisebus in die zu Unrecht selten besuchte Region zwischen Chemnitz, Grimma, Meißen und Freiberg. Weithin sichtbar ist die 72 Meter hohe protestantische Trinitatiskirche aus dem Jahr 1899.
Hainichen und die Erfindung des Zeitungsdrucks
Bevor wir zum schon erwähnten berühmtesten Sohn der Stadt zurückkehren, erzählen wir Ihnen die Geschichte eines ebenfalls revolutionär wirkenden Hainichers. Friedrich Gottlob Keller (1816-1895) versteckte sich zeitlebens nicht in selbigem, sondern war ein sehr umtriebiger Tüftler und Erfinder. Zwar scheiterte er wie so viele an der Idee der Herstellung eines nach physikalischen Gesetzen unmöglichen Perpetuum mobile, doch technikbegabt war der gelernte Webermeister wider Willen. Sein Durchbruch gelang ihm schließlich mit der Weiterentwicklung der Herstellung von Papier. Er erfand eine Methode, bei der entrindete Fichtenhölzer unter warmem Wasser mit rotierenden Schleifsteinen so lange zerfasert wurden, bis das Produkt, der sogenannte Holzschliff, zur optimierten Weiterverarbeitung zur Verfügung stand. Auf dieser Grundlage wurde die preiswerte massenhafte Produktion von Papier möglich. Eine unmittelbare Folge dessen war das Entstehen von Zeitungen. Schon im Jahr 1845, Keller hatte sein Patent inzwischen aus finanziellen Gründen leider abtreten müssen, wurde das Frankenberger Kreisblatt in einer Auflage von 80 Stück mit der Methode des Holzschliffes gedruckt. Eine wahre Revolution für die großindustrielle Papierherstellung! Friedrich Gottlob Keller zu Ehren wurde in Hainichen ein Denkmal errichtet, das wir heute bei einem kleinen Stadtrundgang besuchen können.
Der berühmteste Sohn der Stadt – der Fabeldichter von Hainichen
In den Schatten gestellt wird der bescheidene Ruhm der Stadt allerdings durch den zwei Jahre jüngeren Bruder von Christlieb Ehregott Gellert (1713-1795). Der Ältere und im Übrigen eines der wenigen überlebenden Kinder der Pastorenfamilie Gellert wurde ebenfalls bekannt, aber auf dem Gebiet der Metallverarbeitung und Metallgewinnung. Er war auf der Fürstenschule für Hochbegabte St. Afra in Meißen, studierte in Leipzig, wurde in Sankt Petersburg an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften berufen und wurde nach seiner Rückkehr in die sächsische Heimat letztlich Professor an der Bergakademie in Freiberg im Erzgebirge. Der Jüngere sollte sich ganz anders entwickeln. Zwar kam auch er auf die Fürstenschule St. Afra und auch er begann ein Studium in Leipzig. Anstatt in die theologischen Fußstapfen seines Vaters zu treten, geriet er aber auf den Pfad der Philosophie und legte plötzlich eine Doktorarbeit zur Theorie und Geschichte der Fabel vor. Dass dies zur Folge haben sollte, ihm am zentralsten Ort von Hainichen (am Rathaus auf dem Markt) im Jahr 1865 ein Denkmal zu errichten, war damals vielleicht noch nicht unmittelbar abzusehen. Aber genau so sollte es kommen: In den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts erschienen zwei Bände mit moralisch komponierten Fabeln, die Gellert zu seinen Lebzeiten zum meistgelesenen deutschen Schriftsteller machen sollten. In klarer Sprache brachte er alltägliche Geschichten von Sinnsprüchen flankiert in Form von Fabeln unter das Volk. Damit traf er offenbar den Nerv der Zeit, auch wenn er für den pädagogischen Optimismus von den ihm literarisch nachfolgenden Stürmern und Drängern teilweise sehr gering geschätzt wurde. Der junge Goethe, der ebenfalls in Leipzig studierte, war allerdings sehr angetan von den späteren Vorlesungen zur Moralphilosophie des Professors Christian Fürchtegott Gellert.
Das Literaturmuseum von Hainichen – der Familie Gellert auf der Spur
Dem Leben der Familie Gellert und insbesondere dem Leben von Christian Fürchtegott Gellert widmet sich auch das Gellert-Museum im Stadtpark von Hainichen. Direkt bei der im Stadtpark befindlichen Blumenuhr aus dem Jahr 1935 liegt das weiße, an eine kleine Burg erinnernde und im Jahr 1851 errichtete Parkschlösschen. In dem seit 1985 bestehenden Museum wird der Literaturgeschichte der Fabel nachgegangen; dies bedeutet für die Besuchergruppe mit dem Reisebus sehr anschauliches Bildmaterial. Teilweise wie Karikaturen oder Comics wirken die lehrreichen Tiergeschichten, die immer gesellschaftliche oder philosophische Themen aufgreifen. Mal heiterer, mal ernster präsentiert sich die Ausstellung dabei. Außerdem erfahren wir allerhand Wissenswertes zur Familie Gellert, welche den Ort mitgeprägt hat, seit Christians Vater im frühen 18. Jahrhundert als Pastor nach Hainichen berufen wurde. Außerdem erfahren wir, dass (wie wäre es mit dem Zweitnamen und seinem Elternhaus auch anders zu erwarten) Christian Fürchtegott Gellert zahlreiche Kirchenlieder geschrieben hat. Dabei deckte er sowohl österliche Liturgien (Jesus lebt, mit ihm auch ich), als auch weihnachtliche Liturgien (Dies ist der Tag, den Gott gemacht) überzeugend ab. Auch seine Geburt und sein Tod werden beleuchtet. Er kam im Seitenflügel des Pfarrhauses zur Welt, welches heute noch in Hainichen steht und weiterhin von einem Pastor bewohnt wird. Interessanter noch als die Umstände seines Todes (er starb im Alter von 54 Jahren) ist die seines anschließenden Verbleibs. Man könnte ja meinen, dass der berühmteste Sohn der Stadt auf seinem heimatlichen Friedhof beigesetzt wurde, aber so war es nicht. Gellert ruht heute auf dem Leipziger Südfriedhof, aber auch dafür musste er sage und schreibe drei Mal umgebettet werden. Kurioserweise ist der ursprünglich auf dem Leipziger Alten Johannisfriedhof beigesetzte Christian Fürchtegott Gellert noch zwei Mal wegen Kirchensprengungen verlegt worden. Seit 1900 lag er in einer Gruft in der Leipziger Johanniskirche – diese wurde 1949 gesprengt. Das gleiche Schicksal ereilte aus politischen Gründen auch 1968 die Universitätskirche von Leipzig, die damals zur Ausweichstätte geworden war. Inzwischen ist diese als Gebäude mit gemischter Nutzung (Universitätsaula und Kirche St. Pauli) wieder auferstanden. Unsterblich hat sich auch Christian Fürchtegott Gellert gemacht. Und Hainichen hilft ihm dabei mit einem an vielen Orten als Faltblatt erhältlichem Entdeckerpfad wohlwollend nach.
Die Camera obscura – das geheimnisvollste Gebäude von Hainichen
Der Entdeckerpfad führt noch an einigen weiteren Sehenswürdigkeiten des Ortes vorbei: am Neorokokosaal im ehemaligen Gasthof Goldener Löwe, am Tuchmacherhaus und an weiteren Orten der Altstadt wie dem Rathaus am Markt. Wir aber haben noch eine ganz besondere Empfehlung für Sie herausgesucht, welche von Mai bis Oktober von 10.00 Uhr bis 12.00 Uhr und von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr geöffnet hat. Als eines von drei Gebäuden in Deutschland und etwa 30 verbliebenen weltweit liegt der Turm, der eine begehbare Camera obscura beherbergt, ein kleines Stück nördlich vom Stadtpark. Es ist also vom Gellert-Museum mit angrenzender Blumenuhr nicht weit bis hierhin. Der Turm ist zwar barrierefrei gut zu erreichen, aber dann müssen Sie für das Erlebnis einige Stufen bis zur Turmspitze heraufsteigen. Dort oben gibt es einen würfelförmigen Aufbau, der durch einen schmalen Spalt Licht aus der ihn umgebenden Welt ins Innere bringt. Das bekannte Phänomen ist das Folgende: ist der Spalt eng genug, wird ein auf dem Kopf stehendes Bild der Außenwelt nach innen projiziert – im Grunde das Prinzip der viel später entwickelten Spiegelreflexkameras. Nur eben in lebensgroß und von Besuchern begehbar und erlebbar. Optische Physik zum Anfassen und Staunen – wir hoffen, Sie haben sich ein kurzweiliges und spannendes Bild von Hainichen machen können!
Hinweise
Das Gellert-Museum hat von Sonntag bis Donnerstag von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr geöffnet. Die Adresse lautet: Oederaner Straße 10 in 09661 Hainichen. Telefonisch erreichen Sie das Museum unter der Rufnummer 037207-2498. E-Mail-Adresse: info@gellert-museum.de
Die Blumenuhr finden Sie gleich neben dem Gellert-Museum. Hier befindet sich auch das Zentrum des Stadtparks mit kleinem Tiergehege und Freilichtbühne
Mitten im Park liegt auch das griechische Restaurant mit Freisitz Athos. Es hat von Dienstag bis Freitag von 17.30 Uhr bis 23.30 Uhr geöffnet. An Samstagen, Sonntagen und Feiertagen von 11.30 Uhr bis 14.30 Uhr und von 17.30 Uhr bis 23.30 Uhr. Wenn Sie mit einer Busreisegruppe Plätze reservieren möchten, wenden Sie sich an die Telefonnummer 037207-53461 Die Adresse lautet Oederaner Straße 10a in 09661 Hainichen
Der Turm mit der Camera obscura liegt an der Nossener Straße 2d in 09661 Hainichen
Der Marktplatz mit dem Denkmal von Rietschel für Christian Fürchtegott Gellert hat die Adresse: Markt 1 in 09661 Hainichen
Das Brunnendenkmal zu Ehren von Friedrich Gottlob Keller finden Sie in der Mühlstraße nur etwa einhundert Meter südlich vom Marktplatz mit seinem Rathaus
Das Pfarrhaus, in dem Christian Fürchtegott Gellert geboren wurde, liegt am Gellertplatz 5 in 09661 Hainichen
Einen Parkplatz mit dem Reisebus finden Sie am ehesten östlich vom Stadtpark im Umfeld der Oederaner Straße. Dort gibt es einen Friedhof, einen Fußballplatz und ein Gewerbegebiet. Nach Hainichen gelangen Sie am besten über die A4 und die B169
Lesenswert
Von Christian Fürchtegott Gellert gibt es den Band Fabeln und Erzählungen. Wer tiefer ins Thema Fabeln einsteigen möchte, dem empfehlen wir den antiken Dichter Aesop – seine Fabeln sind weltberühmt. Hier gibt es verschiedene Ausgaben. Vom schmalen Reclambändchen bis zum reich bebilderten Hardcover-Exemplar. Stöbern Sie einfach mal im Buchladen bei Ihnen um die Ecke. Auch Antiquariate helfen gerne weiter, wenn Sie schöne Ausgaben mit Abbildungen und Drucken suchen sollten.