Das Neue Bauen ist kein Baumarkt und eine Gartenstadt kein Gartencenter. Wir machen uns ein Bild von der Pionierarchitektur in Sachsen-Anhalt. Die Werkssiedlung Piesteritz ist schon lange autofrei und noch immer sehr beliebt. Beinahe abgerissen gilt sie nun als Anwärter für das Weltkulturerbe. Besuchen Sie mit uns über 100 Jahre Baukunst!
Die Kletterrosen sind es, die einem als Erstes ins Auge fallen, wenn man die Gartenstadt Piesteritz in Wittenberg betritt. Im Frühsommer ranken sie vor ockerfarbenem Putz empor. Daneben öffnet sich eine in vier Farben gestaltete hölzerne Wohnungstür und zwei Kinder stürmen mit ihren Rollern auf die autofreie Straße. Dezentes Rot, Grün, Grau und Lichtgrau in klarer Gliederung nimmt den Betrachter ein. Unaufdringlich, erfrischend, besonders. Die Tür schließt sich wieder, während jemand den Kindern noch etwas Unverständliches nachruft, vermutlich die Mutter oder die ältere Schwester. Der Blick hebt sich weiter zu den mit herzförmigen Ausschnitten ausgestanzten Fensterläden. Darüber die rotgedeckten Dächer mit ihren schmalen Giebeln. Keine Panoramafenster weit und breit, nichts, was einer neumodischen Gestaltung nahekäme. Einheitlich irgendwie und doch detailliert und abwechslungsreich ist es, was uns begegnet. So gibt es etwa ein Dutzend verschiedene Typen von Türen; sie variieren leicht voneinander und geben den 365 denkmalgeschützten Reihenhäusern ein charmantes Äußeres. Das mag auch an den kleinen Vorgärten mit einheitlichen Rasenflächen oder den Bürgersteigen mit Kopfsteinpflaster liegen. Dass die Fassade die Visitenkarte eines Hauses ist, wusste man also auch schon vor über 100 Jahren – denn so alt ist die ehemalige Werkssiedlung Piesteritz bereits.
Die Werkssiedlung Piesteritz und sein Werk
Der Reisebus hat uns in die Werkssiedlung Piesteritz am westlichen Ende der Lutherstadt Wittenberg gebracht. Entworfen haben sie die Architekten Otto Rudolf Salvisberg (1882-1940) und Paul Schmitthenner (1884-1972). Insbesondere der Schweizer Architekt Salvisberg ist eng mit der Geschichte der Werkssiedlung Piesteritz verbunden. Als die Anlage mit über 350 Reihenhäusern im Jahr 1919 fertiggestellt wurde, war er 37 Jahre alt; später sollte er Ruhm durch die gemeinsame Arbeit mit den Architekten Bruno Taut (1880-1938) und Hugo Häring (1882-1958) an der Siedlung Onkel Toms Hütte in Berlin erlangen. Aber die Weichen dafür wurden schon hier im kleinen Wittenberg gelegt. Genauer gesagt im noch viel winzigeren Piesteritz. Vor 1900 hatte der Ort, dessen Name sich im Slawischen von dem Ausdruck für rascher Bach ableitet, keine 150 Einwohner. Durch die Ansiedlung großer Industriebetriebe (die sehr nahe gelegene Elbe ermöglichte dies) änderte sich das rasch; im Jahr 1916, als mit dem Bau der Werkssiedlung Piesteritz begonnen wurde, gab es einen großen Bedarf an Schießpulver und Sprengstoff. Man befand sich mitten im Ersten Weltkrieg. Es brauchte auf Stickstoffverbindungen basierende Chemikalien im großen Stil – die Fabrik dafür entstand in Piesteritz. Damit die Arbeiter und Arbeiterinnen ihr neues Arbeits- und Lebensumfeld annahmen, wurde das aus Großbritannien stammende und auch in Deutschland bereits erprobte Konzept der Gartenstadt angewendet. Den Bewohnern, die allesamt im Werk arbeiteten (Werkssiedlung), wurde einiges geboten. Eigene Gärten, ein Häuschen mit für die damalige Zeit sehr moderner Infrastruktur und auch ein soziales Gefüge bestehend aus Konsum, Bibliothek und Vereinshaus. Die Leiterin des Historischen Museums Dr. Christel Panzel in der Lutherstadt Wittenberg drückt es so aus: es sollten Bedingungen geschaffen werden, damit die Leute bleiben. So begann die erfolgreiche Geschichte der als Werkssiedlung der Mitteldeutschen Reichswerke gestarteten Gartenstadt. Fast 2000 Mitarbeitende gingen täglich im Stickstoffwerk ein und aus. Das Werk selbst wurde in weniger als einem Jahr Bauzeit hochgezogen, der Wohnungsbedarf war schlagartig immens groß.
Besichtigung der Werkssiedlung Piesteritz
Während unseres gut barrierefrei möglichen Stadtspaziergangs (es gibt keine Autos!) durch die Werkssiedlung Piesteritz können wir uns in Ruhe auf die Idee einlassen, die hinter dem Entwurf einer Gartenstadt stand. Jeder hat schon mal von Dresden Hellerau gehört oder hat es bereits besucht. Auf dem Weg in die Moderne wagte die Avantgarde der Architektur Entwürfe, die Wohnen, Leben und Arbeiten zusammendachten. Und in der Tat konnte man auch hier in der Werkssiedlung Piesteritz über viele Jahrzehnte hinweg den Arbeitern und Arbeiterinnen, den alleinstehenden Sekretärinnen (für sie gab es eigens ein Damenheim, in welchem Herrenbesuch strengstens verboten war) und den Ingenieuren und Werksleitern über den Weg laufen. Sie wohnten alle dicht an dicht – auch das gehörte zum Konzept. Die Werksleiter lebten natürlich mondäner in bis zu 160 qm großen Häusern. Die Meister und Ingenieure hatten ebenfalls ausreichend Wohnfläche zur Verfügung und für die Arbeiterfamilie waren eben 75 qm das Maß aller Dinge; was aber auch damals schon deutlich über dem Durchschnitt lag. Insbesondere unter Bedingungen im Nachklang der Industriellen Revolution des zurückliegenden 19. Jahrhunderts. Die mit Lerchenholzböden ausgelegten Räume waren relativ klein, da sie sich über drei Etagen verteilten. Auch die Fenster fielen zeitgemäß und aus wärmetechnischen Gründen nicht üppig groß aus. Die Arbeiterhäuser finden wir beispielsweise im Stillen Winkel. Die Werksfeuerwehrleute lebten alle nebeneinander im Krummen Weg. Kaum einer hatte einen Telefonanschluss und so konnte im Katastrophenfall rasch die ganze Truppe zusammengerufen werden. Dieser wurde beispielsweise in den 80er Jahren einmal ausgerufen, als gleich ein ganzer Chemikaliensilo in die Luft flog und wie durch ein Wunder wegen eines Schichtwechsels an einem Samstagmorgen niemand verletzt wurde oder ums Leben kam. Es war eine Zeit des ökonomischen Niedergangs in der Deutschen Demokratischen Republik und auch die Siedlung war in keinem guten Zustand mehr. Um nicht zu sagen: Ihr hätte der Abriss gedroht, wenn sie nicht im Jahr 1986 wie durch ein Wunder als Ganzes denkmalgeschützt worden wäre. Zu dieser Zeit stank es mitunter fürchterlich durch das angrenzende Stickstoffwerk, das aufgrund der 5-Jahres-Wirtschaftspläne der DDR unter hohem Produktionssteigerungsdruck stand. Auch heute noch leben viele Menschen in der Werkssiedlung Piesteritz, die schon sehr lange dort wohnen und früher im Volkseigenen Betrieb (VEB) Agrochemie gearbeitet haben. Aus den ehemaligen Arbeitern sind Rentner geworden, aus den Kindern, die auf staubigen Straßen spielten, erwachsene Familienmütter und –väter. Die nächste Generation tobt vereinzelt über die Straßen, die komplett autofrei gehalten wurden nach der Komplettsanierung um die Jahrtausendwende. Damit hält man den Ruf als älteste autofreie Siedlung Deutschlands; Parkgelegenheiten wurden unmittelbar angrenzend geschaffen. Mit dem Reisebus parkt man also besser fernab der Werkssiedlung und nähert sich dem Gesamterlebnis Gartenstadt zu Fuß an – schließlich laufen Sie über ein Gelände, welches zunehmend als Kandidat für das Weltkulturerbe gehandelt wird.
Expressionistisches Bauen neben der Werkssiedlung Piesteritz
Übrigens können Sie noch ein weiteres Baudenkmal in der näheren Umgebung erkunden. Auf dem nördlich der Werkssiedlung Piesteritz gelegenen Friedhof steht eine 1925 erbaute Trauerhalle. Ganz aus Backstein und von Bäumen umgeben wirkt die Kapelle sehr angemessen. Auch wenn sie architektonisch dem Expressionismus zugeordnet wird, darf man sich hier kein lautes, buntes oder grelles Bauwerk vorstellen. Vielmehr war für expressionistisches Bauen (im Übrigen eine deutsche Eigenart) Backstein sehr typisch – das Handwerk wurde hochgehalten, wie später etwa im Bauhaus oder im Deutschen Werkbund. Die Architekten der Moderne entwickelten nach und nach ein Neues Bauen. Der schon erwähnte Bruno Taut sprach beispielsweise als einer der ersten von expressionistischer Architektur. Die Fensterformen sind im Fall der Trauerhalle Piesteritz beispielsweise an die Gotik angelehnt und doch bilden hier ganz gerade Linien die dreieckigen Spitzen der Fenster. Ausdruck geometrischer Formen, wie er beispielsweise in der Malerei dieser Zeit Furore machte. Um Ihnen mal einen gänzlich anderen Eindruck vom Neuen Bauen zu geben, empfehlen wir Ihnen, das Haus Schminke von Hans Scharoun (1893-1972) in der sächsischen Oberlausitz zu besuchen; auch dorthin begleitet Sie der Buskompass.
Hinweise
Den Eingang zur Werkssiedlung Piesteritz finden Sie unmittelbar südlich der Eisenbahnschienen beim Bahnhof Wittenberg Piesteritz. Hier trifft die von Norden kommende Parkstraße auf die Pestalozzistraße. Ein markantes Gebäude mit großem Torbogen markiert den Durchgang zur autofreien Siedlung.
Bis zum Elbufer ist es vom südlichen Teil der Werkssiedlung Piesteritz etwa einen Kilometer zu laufen. Dabei überqueren Sie auch die relativ breite Dessauer Straße. Hier gibt es einige Möglichkeiten essen zu gehen; es gibt eher indische Restaurants und japanische Sushiläden als gutbürgerliche Küche. Dafür empfehlen wir Ihnen dann doch einen direkten Besuch der Lutherstadt Wittenberg.
Der Piesteritzer Hof liegt zwar noch immer inmitten der Werkssiedlung Piesteritz, aber er wird für Feierlichkeiten wie Hochzeiten genutzt und hat keinen regulären gastronomischen Betrieb. Sehenswert ist das Gebäude dennoch.
Lesenswert
Die deutsche Gartenstadt existiert als Nachdruck von 2016 als Taschenbuch. Das Original stammt von Gustav Simons und ist aus dem Jahr 1912. Es erklärt die aus Großbritannien stammende Idee der Gartenstadt, ihren sozialreformatorischen Anspruch, kostet unter 30€ und enthält zahlreiche Abbildungen aus der damaligen Zeit. In genau dieser im Buch beschriebenen Tradition und Entwicklung entsteht die Werkssiedlung Piesteritz nur wenige Jahre später.