Kennen Sie das Geheimnis von Zichorienkaffee? Und wissen Sie überhaupt, was eine Zichorie ist? Hat der unter Friedrich dem Großen erfundene Kaffee womöglich wundersame Heilkräfte? Wir verraten es Ihnen bei einer Busreise an den Elbe-Havel-Kanal im Jerichower Land.
Da stehst du und wartest, dass ich komme daher – Wegewarte, Wegewarte, Du blühst ja nicht mehr. Etwas melancholisch kommen die letzten Verse eines Gedichtes des westpreußischen Heimatdichters, Jägers und Naturschützers Hermann Löns (1866-1914) daher, welches der Wegwarte gewidmet ist. Genauer gesagt handelt es sich um die Gemeine Wegwarte, auch Zichorie genannt – ein von Juli bis Oktober blaublühender Korbblütler, dessen Heilwirkung schon im alten Ägypten bekannt war. Sie soll förderlich für die Gesundheit des Magen- und Darmtraktes sein sowie die Leber entgiften. Auch bei Appetitlosigkeit soll die Wegwarte helfen. Folgerichtig ist, dass sie im Jahr 2020 zur Heilpflanze des Jahres gekürt wurde. Für unsere Busreise ins Jerichower Land an die Landesgrenze von Sachsen-Anhalt und Brandenburg ist entscheidend, was man aus der Wurzel der Wegwarte machen kann: Aus ihr wurde im 18. Jahrhundert ein sehr beliebtes Kaffeeersatzprodukt für Bohnenkaffee aus Übersee hergestellt. Friedrich der Große (1712-1786), König von Preußen, hatte den Import von Kaffeebohnen aus wirtschaftlichen Gründen verboten. Und wie so oft die Not erfinderisch macht, so gelang auch in diesem Fall einem Braunschweiger Gastwirt zusammen mit einem Kompagnon ein kleines Wunder; sie erfanden den Zichorienkaffee. Fabriken zu Verarbeitungen der Wegwarte schossen aus dem Boden. Nach Berlin und Braunschweig verlagerte sich der Trend in Richtung Magdeburg und verbreitete sich so in der ganzen Region. Doch wie funktionierte das genau mit der Herstellung von Zichorienkaffee?
Die Zichorienfabrik in Altenplathow
Zum Ende des 18. Jahrhunderts produzierten fast 20 Fabriken im Großraum Braunschweig-Magdeburg Zichorienkaffee. Es wurden über 3000 Tonnen des wohlschmeckenden, aber nicht koffeinhaltigen Produktes pro Jahr hergestellt. Dafür mussten große Felder mit der so schön blühenden Wegwarte angelegt werden. Die Bauern gruben die Wurzeln aus und brachten sie zu den Fabriken. Dort wurden die Wurzeln zerkleinert, getrocknet und schließlich bei über 100 Grad geröstet. Dabei karamellisiert das in den Wurzeln der Wegwarte enthaltene Inulin, was zu dem kaffeeähnlichen Geschmack führt. Im Anschluss wurde aus dem Endprodukt ein Pulver gemahlen, was echtem Kaffee beigemischt werden konnte oder auch ganz als Kaffeeersatzprodukt diente. Dies war zunehmend notwendig geworden. Denn neben dem eigentlich schon geltenden Importverbot für Kaffeebohnen kam folgende geschichtliche Entwicklung hinzu: Napoleon verhängte im Jahr 1806 die sogenannte Kontinentalsperre gegen Großbritannien – keine Waren von der Insel (und seinen zahlreichen Kolonien!) gelangten mehr nach Europa. Kein Hafen durfte mehr angefahren werden – das bedeutete das endgültige Aus für die Kaffeebohne und führte zum wirtschaftlichen Aufstieg des Zichorienkaffees. Auch der aus Magdeburg stammende Kaufmann Pieschel (1779-1855) entschied sich nun, eine Zichorienfabrik in Altenplathow zu erreichten. Der Standort war ideal. Hatte doch der zur Mitte des 18. Jahrhunderts vom preußischen König Friedrich II. erbaute Plauer Kanal (Vorläufer des heutigen Elbe-Havel-Kanals) die schiffbare Wasserstraße von Berlin nach Magdeburg erheblich verkürzt, was den Handel sehr attraktiv machte für die Altenplathower Bürger.
Das Mausoleum der Familie Pieschel in Altenplathow
Die Familie Pieschel war sozusagen der erste industrielle Arbeitgeber in Altenplathow. Neben der Zichorienfabrik ließ sie noch eine Ölmühle und eine Schrotgießerei errichten, die allerdings inzwischen abgerissen wurden. Dass es die Familie überhaupt von Magdeburg in den Ort Altenplathow zog, lag nicht nur (aber natürlich ökonomisch gesehen schon) am Plauer Kanal; ein Infrastrukturprojekt dieses Ausmaßes zog schon immer Geld, wohlhabende Menschen und Arbeiter an. Die Pieschels ließen sich ein Herrenhaus errichten. Die Geschichte des Ortes, der vor 100 Jahren im Jahr 1923 zum Ortsteil von Genthin wurde, ist interessant: Zu früheren Zeiten war Altenplathow der weitaus bedeutsamere Ort und Genthin war diesem zugeordnet. Das liegt daran, dass schon die Slawen im 12. Jahrhundert eine Burg errichteten, von welcher heute nichts mehr übrig ist. Altenplathow war außerdem Standort des Elbdeichgerichtes, einer Institution, die mit dem Deichbau an der nur 10 Kilometer westlich gelegenen Elbe zusammenhing. Seit dem 14. Jahrhundert wurde hier im Jerichower Land der mächtige Strom eingedeicht. Eine Pestepidemie während des 30-jährigen Krieges (1618-1648) setzte dem Ort schwer zu; danach verfiel die einstmals stolze Burg. Davon, dass die Familie Pieschel eine bedeutende Rolle spielte, zeugt nicht zuletzt ein schon etwas verfallenes Mausoleum im Pieschelschen Park, der unmittelbar an die ehemalige Zichorienfabrik angrenzt.
Der Landschaftsarchitekt Lenné entwarf den Volkspark für Altenplathow
Wir empfehlen Ihnen, für Ihren Ausflug mit dem Reisebus nach Altenplathow auf der südlichen Seite des Elbe-Havel-Kanals zu parken. Dann können sie die Fußgängerbrücke etwa 500 Meter östlich der Bundesstraße B 107 überqueren und sich dann auf der Nordseite des Elbe-Havel-Kanals in Richtung Pieschelschem Park bewegen. Dieser grenzt an die Bundesstraße, was ihm allerdings nicht seine ruhige Atmosphäre verleiht. Dafür müssen Sie sich weiter nach Westen orientieren; am einfachsten immer am Elbe-Havel-Kanal entlang. Im Park gibt es neben dem Mausoleum der Familie Pieschel noch einen Schwanenteich und einen schönen alten Baumbestand. Auch historisch interessant ist die Anlage; hat sie doch niemand Geringeres als der berühmte, vor allem im Umfeld von Berlin wirkende berühmte preußische Landschaftsarchitekt Lenné (1789-1866) entworfen. Von Berlin und Potsdam direkt an den Elbe-Havel-Kanal könnte man sagen. Und auch wenn der englische Landschaftsgarten inzwischen umgestaltet wurde und der Ort (leider auch wegen der Bundesstraße) etwas von seinem Charme aus dem frühen 19. Jahrhundert verloren hat (eröffnet wurde er im Jahr 1839), so ist er doch ein erholsamer Aufenthaltsort. Wenn Sie sich auf dem Weg dahin mit einem Kaffee auf die Hand oder aus der mitgebrachten Thermoskanne versorgt haben, kann der Tagesausflug nur gelingen. Es muss ja nicht unbedingt Muckefuck sein – hergeleitet von dem französischen mocca faux für falschen Kaffee. Denn letztlich war das der aus einer Notlage heraus entwickelte Zichorienkaffee. Nichtsdestotrotz erfreuen wir uns im Spätsommer und Herbst am Anblick der immer noch weit verbreiteten Wegwarte.
Hinweise
Das Gelände der ehemaligen Zichorienfabrik befindet sich in der Fabrikstraße 8 in 39307 Genthin. Es kann ebenso wie der ehemalige Mühlturm nicht besichtigt werden, aber vom Park aus bietet er ein beeindruckendes Bild. Hier finden Sie auch das Mausoleum der Familie Pieschel und können Zeit im Volkspark verbringen.
Die B 107 führt von Ziesar südlich des Vogelschutzgebietes Fiener Bruch nach Norden durch Genthin (und den Ortsteil Altenplathow) bis in das etwa 20 Kilometer entfernte Jerichow.
Bemerkenswert
Probieren Sie doch selbst einmal eine Tasse koffeinfreien Zichorienkaffee. Den gibt es nämlich noch immer zu kaufen. Auch Bohnenkaffee, der mit der karamellisierten Zichorienwurzel versetzt wurde, ist erhältlich. Und wenn Sie besonders ambitioniert sind: Graben Sie die Wegwarte aus, schneiden Sie die Wurzel in kleine Teile und rösten Sie diese bei etwa 120 Grad im heimischen Ofen. Danach können Sie das Endprodukt feinmahlen und mit Kaffeepulver aus Bohnenkaffee versetzen.