Irgendwann macht es plopp und es kommt der Tag, wo man spürt, dass man vielleicht doch älter geworden ist. Ist es dann, wenn man merkt, dass selbst die eigenen Kinder älter geworden sind? So alt, wie man in ihrem Alter selbst nicht gewesen zu sein meint? Und man feststellt, dass diese Kinder zu einer Zeit Kind waren, die heute altmodisch anmutet. Also auch die eigenen Kinder bereits aus einer anderen Zeit sind?
Gestern war ich im Kino. In dem französischen Film Passagiere der Nacht mit den wunderbaren Schauspielerinnen Charlotte Gainsbourg und Emmanuelle Béart. Der Film spielt in den achtziger Jahren in einem Pariser Hochhausviertel aus den siebziger Jahren, in Beaugrenelle, im Tour Perspective, unweit des Eiffelturms, an der Seine gelegen und im Studio eines Radiosenders. Alles scheint komplett anders: die Farben, die Stimmungen, die Möbel, die Musik. Und die Menschen hatten Zeit, anders Zeit. Es gab Plattenspieler, Schallplatten und Fernseher und man ging einfach spontan ins Kino. Es gab weder Handys noch Streaming noch Internet. So war das. Ich selbst bin Ende der fünfziger Jahre geboren. Das ist noch länger her.
Bislang meinte ich, mit der Zeit zu gehen, wie man so sagt. Einfach Kind meiner Zeit zu sein. Doch kürzlich machte es plopp. Meine Zahnärztin, die meine Freundin seit dem Kindergarten ist, erzählte mir, dass sie ihre Zahnarztpraxis verkauft habe. Ziemlich plötzlich, denn sie musste das Angebot annehmen, das sich ihr bot. Das bedeutet, dass sie zukünftig nicht mehr komplett berufstätig sein wird. Eine Augenärztin, die meine Klassenkameradin war, hatte ihre Praxis bereits vor einem Jahr verkauft. Beide waren gute Ärztinnen und ich fühlte mich bei ihnen in besten Händen. Nicht allein, dass ich mir nun neue Spezialisten suchen müsste. Die Tatsache, dass Angehörige meiner Generation, Menschen, die aktiv die Gesellschaft beeinflussten, meine Freundinnen, demnächst Rentner sein werden, ließ mich zutiefst erschrecken. Ich sage übrigens hier bewusst Rentner, nicht Rentnerinnen, weil der Schreck so groß ist. Sind wir doch die Generation Jeans und Turnschuhe, die ewigen Teenager, für die das Alter keine Frage, sondern nur eine Zahl ist. Und das generische Maskulinum erscheint mir sprachlich einfach zutreffender.
Der Gedanke ist komisch, dass die meisten Chefs und Bundeskanzler, die ich zukünftig erleben werde, jünger sein werden als ich.
Auch meine Friseurin und eine mit mir seit der Jugend bekannte, sehr engagierte Pfarrerin und ihr Mann, der ebenfalls Pfarrer ist, sind bereits in Pension. Sie haben es sich verdient. Denn sie waren trotz vier Kindern rund um die Uhr für die Leute und deren Anliegen ansprechbar. Ende des Jahres geht zudem der Leiter unseres Kirchenchores, in dem ich seit Jahren singe, in Pension. Bei einem Laienchor hängt vieles an dem Leiter. Das ist klar. Er hatte den Chor seit Jahren aufgebaut, weiter entwickelt und zu beachtlichen musikalischen Leistungen gebracht. Nun wissen wir nicht, was wird, denn natürlich wird der Fortbestand des Chores an dem Nachfolger, der Nachfolgerin liegen. Am vergangenen Samstag war ein Treffen mit der Leitung der Kirchengemeinde anberaumt, um uns mitzuteilen, wie die Stellenausschreibung aussehen wird.
Wir trafen uns um 15 Uhr in einem Gemeindesaal. Es gab Kaffee und Gebäck. Die Gemeindeleitung hatte einen Mediator vom Amt für kirchliche Dienste mitgebracht, der erzählte, dass man erst die Vortragenden ausreden lassen solle, bevor wir selbst etwas sagen. Das klang nach nichts Gutem. Dann sprach eine Pfarrerin, die mir unbekannt war, sie ist erst kürzlich dazu gekommen, über die derzeitige Situation. Sie meinte, wie wichtig Kommunikation sei, und dass es wichtig sei, dass der neue Kirchenmusiker, die Kirchenmusikerin sehr gut kommuniziere. Außerdem sei es auch notwendig, dass man sich von Altem, Liebgewonnenem verabschiede und so weiter. Ich sage mal, sie schwafelte und schwurbelte dahin. Ich kürze es ab. Das Ergebnis war, dass unser Chor in der Form nicht mehr bestehen wird, sondern mit einem anderen Chor zusammengelegt werden wird. Das sagte die Pfarrerin allerdings nicht direkt, sondern wir Betroffenen mussten es aus ihren Worten und ihrem Untertext herauslesen. Es war für alle Beteiligten ein ziemlicher Schock. Dass die Entscheidung bereits getroffen wurde, ohne mit uns, den Sängern, darüber zu sprechen, hätten wir nicht erwartet. Erst recht, dass die Pfarrerin nicht die Worte, die Kraft des Wortes hatte, uns direkt zu sagen, was los ist. Braucht man für unangenehme Nachrichten einen Mediator? So mag ich mir die Kirche und die Zukunft nicht vorstellen. Sowieso bin ich eine Zweiflerin und würde mich nicht als gläubig bezeichnen, bin allerdings der Institution Kirche verbunden und fühle mich in den Räumen, Riten, Worten und besonders der Kirchenmusik zu Hause. Es wurde dann noch besprochen, wie das Bewerbungsverfahren ablaufen wird und so weiter. Wir werden sehen.
Ich hätte nicht vermutet, dass selbst so ein altgedientes kirchliches Basis-Projekt, in dem alle Mitglieder ausser dem Leiter ehrenamtlich dabei sind, Sparmaßnahmen zum Opfer fallen kann. Chöre sind die größten Gruppen in Kirchengemeinden und binden Menschen aus allen Bevölkerungsschichten an die Kirche. Auch die, die nicht oder nicht mehr Mitglieder der Kirche sind. Chöre sind ein Teil der Öffentlichkeitsarbeit einer Gemeinde. Vielleicht muss man das stärker ins Bewusstsein rücken. Es braucht allerdings auch Sinn und Leidenschaft für Musik.
Im Laufe des Nachmittags wurde natürlich ständig von Bewerber: innen, Kirchmusiker: innen und so weiter gesprochen. Dann fiel das Wort, die Bezeichnung Pfarrperson. Das schoss den Vogel ab. Dieses Wort hatte ich noch nie gehört. Pfarrperson werde ich nicht sagen. Da sage ich lieber Hochwürden. Obwohl das katholisch ist und ich nicht. Bin ich aus der Zeit gefallen?
Es könnte ja auch sein, dass nach den Pflichtaufgaben des Berufes eine Kür mit freiwillig gesetzten Zielen und Tätigkeiten kommt. Zuerst die Pflicht, dann die Kür? Einige meiner Freundinnen, Kolleginnen der schreibenden Zunft, werden sowieso weiter arbeiten. Weil sie immer geschrieben haben, es ihnen Freude macht und auch weil ihre Rente eher ein Witz als eine Lebensgrundlage ist. Dirigenten und Anwälte arbeiten schließlich auch solange sie es können. Einfach, weil es ihr Metier ist, ihre Leidenschaft. Ein Neuanfang wäre vielleicht eine Möglichkeit und eine gute Idee. Einfach, weil man jetzt kann und nicht mehr muss. Es kann, es darf spannend bleiben.
Die Schriftstellerin, Bibliothekarin und Kunstsammlerin Ursula Ziebarth schrieb von ihrem 90. Lebensjahr bis zu ihrem Tod mit sechsundneunzig noch elf Bücher. Ich war während ihrer fünf letzten Lebensjahre ihre Privatsekretärin. Wir machten zusammen drei Bücher. Ich denke, die Zeit hat mich geprägt und von den langen Nachmittagen und Abenden, Schreiben an Feiertagen und zu Silvester ist auf jeden Fall etwas hängengeblieben, übriggeblieben und besteht weiter.
Und ja, dieser Text entstand an einem Tag, als bei mir zu Hause das Internet ausgefallen war. Da ist Luft nach oben!
3 Kommentare
Karin Frucht
schreibt witzig charmant und man spürt ihr Hintergrundwissen.
Es fühlt sich an, als sitzt man sich gegenüber ….
Ich kenne Frau Frucht schon lange, habe aber erst jetzt ihre Artikel gelesen und bin voll auf begeistert.
Ich freue mich jedenfalls auf das Lesen der Artikel, die ich verpasst habe.
Aber vor allem bin ich gespannt auf weitere neue inspirierende Texte.
Vielen Dank!
Die Beiträge von Karin Frucht sind etwas Besonderes – Es gelingt ihr jedes Mal, interessante Informationen zu einem Ort, einem Thema mit einem sehr persönlichen Ansatz zu verbinden.
Speziell in dem Artikel vom 26. Januar 2023 zum Thema „Lebenswende“ trifft sie punktgensau den Nerv unserer Generation – oder zumindest meinen. Und das sicher nicht nur, weil ich mich selber auch plötzlich ( naja!) in der Situation befinde, zu den Älteren zu gehören. Wieso war mir das bloß bis jetzt noch nicht so wirklich bewusst geworden? Nun ja, jedenfalls lässt man sich, lasse ich mich gern von ihr mitnehmen – und folge den Meandern ihrer vielfältigen Gedankengänge und Weltwahrnehmungen.
Barbara Engelmann